Rochaden
Vor diesem Zug, einem Railjet, war ein ICE ausgefallen. Der Railjet kann die, die ihn hätten nehmen wollen, zumindest bis zum nächsten Umsteigebahnhof und somit ihrem Ziel näher bringen; er ist also voll. Auf unseren reservierten Plätzen sitzen andere. Es sind freundliche Touris, vermutlich aus Nordamerika, die sofort aufstehen; sie wären nämlich im falschen Zug, hätten eigentlich den eine Stunde später nehmen sollen. Oh, wie bedauerlich!
Die junge Frau, die auf meinem Platz sitzt – sie gehört anders, als ich ursprünglich annahm, nicht zur Tourigruppe –, steht nicht gleich auf. Als ich sie höflich darum bitte, antwortet sie, als würde sie mir großzügig einen Gefallen tun. Meine Großmutter raunt mir im Kopf zu, “no, mea hod’s ned braucht”. Ich raune die Großmutter mental weg. Die junge Frau, jetzt neben mir, hochgestecktes Haar, enge Leggings, braun, enges, hautfreigebendes Oberteil, wollweiß. Sie könnte Influencerin sein. Sie hat eine Katze dabei in einem nach außen verdunkelten Katzenbehältnis, das vor ihr am Tisch steht. Manchmal maunzt die Katze, dann hebt die Katzenfrau den Vorhang über der Vorderseite des Behältnisses hoch, steckt zärtlich ihre Hand hinein; die Katze reckt ihren Kopf der Hand entgegen. Eine schöne Katze, die nicht gern reist. Die junge Frau hat ein Pad mit Tastatur vor sich, irgendein Internetshop, den sie testet, konfiguriert, manchmal haucht sie in ihr Endgerät zu einem Mittester oder Mitkonfigurator; ein männlicher Name erscheint gelegentlich in der rechten Spalte des Bildschirms, die ich sehen kann.
Der Zug wird voll bleiben, in jedem Bahnhof Zusteigende, die neue Platzrochaden bedingen, weil sich herausstellt, wer hier aller auf anderen Plätzen sitzt als den reservierten, weil da schon jemand saß, aber eh noch woanders was frei war, und man wollte dann nicht stören. Das alles vollzieht sich in größter Freundlichkeit, ich staune. Die Katzenfrau erklärt einem Herrn geduldig und mit ausgesuchten Worten, wie er den Sitz nach hinten verstellen kann, das geht in den Railjets nämlich nicht so wie im Flugzeug durch Rückendruck, nein, “Sie müssen Ihr Gesäß einsetzen”. Dann schafft er es, alle lachen erleichtert, nachdem sich zuvor schon der vorbeieilende Schaffner entschuldigt hatte, dass der Sitz wohl kaputt sei, man aber bei dieser Auslastung leider keinen Alternativsitz anbieten könne.
Der Rücken der Katzenfrau sonnengebräunt, streifenfrei, soweit ich an den Stoffstreifen des Oberteils vorbei erkennen kann, ihr Nacken dann aber deutlich heller. Wie kriegt man sowas hin, frage ich mich. Bräunungscreme, meint G. später (Ryan Gosling, Selbstbräuner, Barbie-Film, da war unlängst was), und da denke ich dann daran, wie sie mit nacktem Oberkörper dasitzt, vielleicht, während ein Mann, vielleicht ihr Mitsystemtester, ihren Rücken mit Selbstbräuner besprüht, sorgfältig verteilt, vielleicht haucht sie “bitte sei am Hals vorsichtig”, und er bleibt vorsichtig am Hals, irgendwo schnurrt die Katze im Raum.
Als ich kurz raus muß, steht sie auf, bleibt aber gleich vor dem Sitz stehen, da der Speisewagenkellner dasteht, den sie nach einem Anschlusszug fragt, worüber er natürlich nicht Bescheid weiß, was sie nur langsam zur Kenntnis zu nehmen bereit ist. Zugrochaden, Körperrochaden. Mein Körper quetscht sich an der Tastatur ihres Pads vorbei, die über den Tischrand hinausragt, quetscht sich an ihr vorbei, die sie da steht vor dem Speisewagenkellner. Da ist es wieder, dieses Gefühl, dass Menschen sich so verhalten, als würde mein Körper nicht den Raum brauchen, den er halt nun einmal braucht, als wäre seine Existenz physikalisch ganz und gar konsequenzlos. “Weid hommas brocht”, raunt die Großmutterstimme.
Bei der Einfahrt in den Münchner Hauptbahnhof, die sich immer zieht wie ein böhmischer Strudelteig, während der Zugführer seine Durchsagen diesmal sogar in Französisch vorbringt, an einem dieser Gebrauchsbauten vorbei, ein recht kleiner Steinwürfel, gezählte acht Mal groß mit „CLIT“ besprüht.