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- 30 09 2023 - 14:21 - katatonik

Sprechende Figuren (Rom, September 2023)

Der Mann in der letzten Reihe im Bus hörte laut Jazz auf seinem Handy; es klang nach Ornette Coleman.

Der Typ, der mit einem Mona-Lisa-T-shirt in die Vatikanischen Museen ging.

Die Kids an den zwei Nebentischen im wenig bemerkenswerten Restaurant nahe dem Pantheon, so Interrail-Gespräche halt, es ging um Einreiseschwierigkeiten in einzelne Länder, wie “damals” und, anders als “damals”, um Immobilienpreise hier und dort (in Japan kannste billig alte Häuser kaufen und renovieren, ich lachte mir einen ab), um Einreisewarnungen für bestimmte Länder wg. Bränden und anderem Klimascheiß, und darum, dass der eine in Kanada so einen Datensammeljob in Zusammenhang mit den Waldbränden hätte; er war der Stillste am Tisch.

“On the lid, a reclining couple: their heads are left unfinished.”

Es war in einer dystopischen Serie (“Black Mirror”?) oder einem dystopischen Film, da erfuhren Figuren plötzliche Änderungen ihrer Zeitwahrnehmung. Alles um sie herum bewegte sich nur noch sehr langsam, schien stillzustehen, während sie weiter agierten, herumliefen um die Stillstehenden, Gegenstände bewegten. So wie diese Stillstehenden sehen die Selfinger für mich aus, diese Menschen, die sich ihr Endgerät an einem Stick oder am ausgestreckten Arm vorhalten und damit eine ganz eigene Beziehung eingehen, mit sich selbst im Kamerabild eine ganz eigene Beziehung eingehen, abgegrenzt von allen anderen durch ein plötzlich eingenommenes, ganz eigenes Repertoire an Gestik und Mimik, meist nur kurz, aber doch. Unsereine bewegt sich weiter, aber sie stehen still, und natürlich besteht die Pointe darin, dass überhaupt nicht gesichert ist, wer nun aus wessen Realität herauskippt. Besonders eigen dabei die großen sehenswürdigen Plätze in Rom, wo man auf leerer Fläche mehrere Selfinger sieht, als wären sie komponiert oder würden gemeinsam Improvisationstanz vollführen.

Dann, aus dem Kolosseum von oben herab gesehen, plötzlich ein Mann, der auf einer dieser leeren Flächen tatsächlich zu tanzen beginnt, er wiegt seine Hüften mit großer Eleganz, einige Schritte hin, einige her, ganz ohne Endgerät – oder hat er Musik im Ohr? Ein paar andere sehen ihm zu, nach einigen Schwüngen hört er wieder auf, einfach so, wie er begonnen hat.

Eines Abends vom Pantheon zur Bushaltestelle an einer Kirche vorbei, der Eingang offen; ein dunkler, riesiger Raum, die Kuppel ganz hinten erhellt. Wir gehen hinein, orientieren uns, da sind andere. Eine Frau fragt uns, ob wir in der Schlange stehen. Nein, sagen wir, da erst die kurze Schlange bemerkend. Sie stehen alle vor einem schräg gestellten Spiegel an, blicken dann hinein und fotografieren sich. Wir erfahren nicht, was es damit auf sich hat. Wir fragen nicht nach. Wir recherchieren, kommen an einem anderen Tag noch einmal vorbei. Es handelt sich um die Kirche “Il Gesù” (Chiesa del Santissimo Nome di Gesù all’Argentina), die Mutterkirche des Jesuitenordens. Man kann sich im Spiegel so fotografieren, dass das Deckengemälde von Giovanni Battista Gauli im Hintergrund sichtbar ist; es soll den Anschein erwecken, als würde der Himmel das Dach durchbrechen. Auch tagsüber eine lange Schlange vor dem Spiegel, voller Geduld, denn manche brauchen sehr, sehr lange, bis sie mit ihrem Endgerät ein für sie akzeptables Himmeldeckenselfie gemacht haben.

Die aus nicht ganz geklärten Gründen Marforio genannte Statue, liegend, heute im Hof des Palazzo Nuovo, in dem die kapitolinischen Museen untergebracht sind. Der Marforio gilt als eine der sprechenden Statuen Roms, im Freien platzierte antike Figuren, an denen das Volk nachts Zettel mit Versen anbrachte, um Unzufriedenheit auszudrücken oder über Mächtige zu spotten. Erwischte man jemanden dabei, heisst es, wurden Zungen abgeschnitten, Hände abgehackt, oder es ging an den Galgen. Der Marforio, wenn er denn schon anno dazumals in einem Brunnen lag, scheint mir für diese Praxis aber denkbar schlecht geeignet. Man hätte in einen Brunnen klettern müssen, mit oder ohne Wasser recht beschwerlich, doch womöglich bestand gerade darin die challenge. Protest, der etwas bedeutet, braucht Risiko.

In der Lateranbasilika ein Mann, lässiges Leinenhemd und lockiges Haar, Italiener, mit einer Frau, blond, sorgfältig zurechtgemacht, cool, Amerikanerin. Zuerst hielt ich ihn für ihren Reiseführer, denn er erzählte ihr etwas über die Kirche, dann aber nahm das Gespräch eine persönlichere Wendung. Es ging um das Leben an und für sich und die Arbeit. Er wollte sie beeindrucken mit Tiefsinn und Kultur — “others relax in a bar, I relax by writing books”. Das schien an ihr abzuperlen, was ihm aber wiederum nichts auszumachen schien; es war ein peripatetisches Gespräch voller Leichtigkeit. Zu viel Arbeit sei nicht gut, sagten beide. Er überlegte wohl, seinen Beruf, welch immer der das auch war, vorzeitig aufzugeben und in Frühpension zu gehen, das mit der vielen Arbeit würde doch zu nichts führen. “You should stop working then”, riet sie ihm, gerade, dass kein “totally” im Satz vorkam; “that’s why I stopped working at 55”. Sie lachten beide; sie legte ihm den Arm um die Schulter, was ihr Verhältnis etwas weniger mehrdeutig machte.

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