Von Sterbenden
Sie lag auf die linke Seite gedreht. Man hatte sie so gedreht, man drehte sie abwechselnd von einer Seite auf die andere, manchmal auch auf den Rücken. Die Arme immer angewinkelt und am Oberkörper abgelegt. Der Schlaganfall betraf die rechte Seite des Gehirns und damit die linke Seite ihres Körpers. Gesprochen hat sie schon seit einem halben Jahr nicht mehr, sagt der D., ihr Sohn. Da war ein blöder Sturz, ein Bruch, danach hat sie aufgegeben. Sie hat aufgegeben ihren Körper zu bewegen, Stück für Stück. Aber ein Wille zu leben, der war noch da, eine Freude über seinen Besuch, über Berührungen, über Busserln auf die Wange. Als sie noch lesen konnte, im letzten Jahr, da las sie immer, las sie ausschließlich, aus W. Bernard Carlsons Biografie von Nikola Tesla, erzählt der D. Ein Buch über einen intelligenten Migranten aus dem Osten, der es im Westen schwer hatte. Das passt biografisch wie die Faust aufs Aug. Sie hielt das Buch auch noch fest, als sie nicht mehr lesen konnte.
Erst ist sie in einem Zimmer mit drei anderen Damen, zwei ältere, eine jüngere. Die jüngere dick, aufgedunsen, mental in einer anderen Welt, manche würden sagen, geistig behindert. Sie blickt dich an, unverwandt, so sagt man, mit großen Augen, über einer bunten Zeitschrift, in der sie blättert, immer die gleiche Zeitschrift, all die fünf Stunden lang, die du an diesem Tag da bist, immer der gleiche Blick, zu dem du nichts sagen kannst. Eine der beiden älteren Damen hat Anfälle spontaner Redseligkeit. Sie hält ihr Mobiltelefon und wischt, sagt Sätze, von denen nicht klar ist, an wen sie sich richten, oder ob überhaupt an jemand Bestimmtes.
“Es wird schwül.”
“Gestern hätt mein Neffe kommen sollen, aus der Steiermark, aber dann das Unwetter.”
“Das Nachthemd, so warm. Immer das gleiche Nachthemd geben’s einem im Krankenhaus, ob Winter oder Sommer. Viel zu warm im Sommer. Daheim trag ich kein Nachthemd, nur ein Leiberl.”
“Mistelbach, 25 Grad.”
“Meine Geburtstagsfeier hätt ich in dem Heurigen dort haben wollen, aber dann das Krankenhaus.”
Sie liegt also da, ein jetzt durch und durch gebrechlicher Körper, nicht in das Bett gesunken, sondern im Bett aufgehoben. Ihre Lippen sind leicht gespitzt. Die Augen sind halb geöffnet, aber es ist kein Blick in ihnen. Das ist zuerst erschütternd, wenn da kein Blick ist, aber du gewöhnst dich in gewisser Weise daran, dass da jemand ist, der nicht mehr da ist. Ein Körper, der mit jedem Atemzug trockener wird. Der Atem erst regelmäßig, wie im Schlaf, dann stockt er etwas, was immer leicht ängstigt, bevor er wieder einsetzt. In den Atempausen prüfst du, ob an jenen Stellen, die durch Herzschlag bewegt werden, noch Bewegung ist, am Hals zum Beispiel. Ich lese später von der Cheyne-Stokes-Atmung, die auch nach Schlaganfällen eintritt. Manchmal blinzelt sie. Wenn der D. oder ich ihr ein Busserl geben, oder mehrere, wenn ich meine Wange an die ihre drücke und dort lange halte, oder wenn ich ihren warmen Unterarm fest drücke, dann blinzelt sie mehr, dann blinzelt sie schneller. Dann sind die Augen nicht mehr grau verschleiert; die Iris klärt sich. Zu einem Blick kommt es aber trotzdem nicht mehr, denke ich. Sie schaut ihn an, denkt der D.
Wir gehen rein und raus, der D. und ich, später dann auch seine Schwester, am darauf folgenden Tag dann auch die Freundin seines Sohnes mit der Zweijährigen am Arm. Wir gehen raus und geben einander Zeit allein mit ihr, oder der Ärztin Zeit für die Visite, oder den Pflegerinnen Zeit für Drehungen, Waschungen, Einreibungen. Die anderen drei Patientinnen bekommen ihr Mittagessen. An ihrem Bett steht “Nahrungskarenz”. Es gibt keine Magensonde, das hätte keinen Sinn mehr. Es gibt keine Behandlung mehr außer Schmerzmedikation, Morphine, subkutan. Man könnte noch stärkere neurologische Reaktionen provozieren, sagt die Ärztin. Aber es würde keinen Zweck erfüllen. Sie sagt nicht dazu: Es wäre eine reine Beruhigungsshow für die Angehörigen, die ihnen noch dazu falsche Hoffnungen machen würde. Wir verstehen das auch so. Die Entscheidungen sind alle sehr klar, weil sie keine Entscheidungen mehr sind. Es ist dies ein notwendiger Prozeß des Sterbens, der sich ereignet, in seiner zeitlichen Dimension nicht genau absehbar, aber doch genau genug. Ein paar Tage noch.
Wir gehen ins Café im Erdgeschoß, wo immer der Bär los ist, ein populäres Krankenhauscafé mit sehr freundlicher Bedienung. Wir sitzen draußen. Ein Eiskaffee vielleicht? Der ist echt gut. Wir gehen vorbei an der Wartezone der Unfallambulanz, so viele Leute mit Gips da, unglaublich, wieso haben die alle so viele Unfälle? Scooterfahrer, meint der D., Traktorfahrer, meine ich. An einer hohen Flurwand hängt ein riesiges Schüttbild, das aussieht wie von Hermann Nitsch. Sein Name steht aber nicht dabei.
Das Bild ist von Hermann Nitsch, der in der Gegend wohnte. Im Jahr 2004 hat das Land Niederösterreich das Bild um 30.000 Euro angekauft. Blut, Leiden und Erlösung sind als Themen in einem Krankenhaus durchaus stimmig. Was fehlt, ist das Gesundwerden, das Wiederherstellen, ohne religiöse Bedeutungsdimension. Aber das wäre dann eben nicht Nitsch, und in einem Krankenhaus, wo ohnehin in jedem Krankenzimmer ein Kreuz hängt, kann man sich eigentlich über Passionsbilder nicht gut beklagen. Es gab Proteste gegen das Bild. Der damalige Bürgermeister wird zitiert mit der Aussage: “Nitsch malt auch Bilder in Orange und Gelb. Für die Klinik hätte man besser ein solches genommen.” Der Journalist, der ihn auf die Existenz auch gelber Körperflüssigkeiten in Krankenhäusern hinwies, wurde vermutlich im Krankenhauskeller einbetoniert. Hermann Nitsch verstarb jedenfalls 2022 in ebendiesem Krankenhaus. Das Bild hängt immer noch da, ein tröstliches Zeichen dafür, dass aufgekochte Empörung gelegentlich auch wirkungslos verpuffen kann.
Am zweiten Tag hat man sie in ein Einzelzimmer verlegt, in ein Bett direkt beim Fenster. Der D. sagt “hast du’s wieder geschafft”, damit auf ihre lebenslange Kunstfertigkeit anspielend, aus vorhandenen Strukturen das Beste für sich selbst herauszuholen, und zwar ohne Gesetzesbruch und ohne Irritationen im sozialen Gebälk. Ich sage, “du hast sogar einen Blick auf den Hubschrauberlandeplatz”, wo am Dach des Nebengebäudes vor wenigen Minuten der knallgelbe Rettungshubschrauber gelandet ist. Wir machen Witze, wo wir jetzt allein mit ihr sind, darüber, dass sie sich wahrscheinlich denkt, oh nein, jetzt sind die Trotteln schon wieder da, warum können die mich nicht endlich in Ruhe lassen. It would not be out of character.
Ihre Hände sind wärmer an diesem Tag, dafür sind die Atempausen länger. Ich atme eine Zeit lang in ihrem Rhythmus mit, halte das aber nicht lange durch; zu kraftvolle Atemzüge in zu kurzer Folge. Alle Achtung. Für mich ist das wie Hyperventilieren. Anstrengend. Da sind Schweißperlen auf ihrer Stirn, an ihrer Nase, an den Wangen, in den Kuhlen über den Schlüsselbeinen. Die schwüle Luft? Wir öffnen zusätzlich zum gekippten Fenster die Tür. Wir besorgen weiche, saugfähige Lappen, mit denen wir immer wieder Schweiß von ihrer Haut tupfen. Die Freundin vom Sohn vom D., die mit der Zweijährigen am Arm, spielt ihr vom Handy Musik vor. Warum habe ich nicht früher daran gedacht? Sie mochte romantische Klassik, sie mag romantische Klassik.
Am Nachttisch steht eine Flasche Hautöl, benannt Wegebegleitungsöl (Mandelöl, Neroli, Rose, Rosengeranie, Sandelholz). In der Werbeprosa auf der Website der Herstellerfirma wird als Einsatzzweck tatsächlich auch die “würdevolle Begleitung des letzten Lebensabschnittes” erwähnt. Als ich an dem Öl rieche, plötzlich ein Aha-Moment. Genau das ist der Geruch, der mir seit dem Vortag im Vierbettzimmer nicht mehr aus der Nase ging. Der Geruch kam von ihr, das war klar, aber ich wußte nicht, wodurch bedingt. Er war leicht medizinisch, leicht organisch, uneindeutiger Genese. Er hatte sich in meiner Nase festgesetzt und war überall, im Eisenbahnwaggon am Rückweg, in der U-Bahn, im Kaffeehaus, im Badezimmer zu Hause. “Da, der Geruch”, sage ich zum D., und er riecht an dem Öl und sagt, genau, den Geruch hätte er in den letzten Tagen die ganze Zeit in der Nase gehabt, immer, überall. Tod riecht anders, sage ich. Genau, sagt er.
Ich hatte einen Text geschrieben, den ich ihr ursprünglich hatte vorlesen wollen. Es war ein Abschiedstext. Aber es fühlt sich nicht passend an, ihr etwas vorzulesen. Es ist dies eine Situation, die ein direktes Sprechen verlangt, ein Ansprechen mit einer Stimme, die ihren Körper manchmal anflüstert, manchmal umspielt, manchmal verlockt. Es ist eine Situation, in der sich kurze Sätze sagen lassen, die sich wiederholen, mit kleinen Variationen. Sätze, die Berührungen begleiten, eine Art Musik. Es fühlt sich auch nicht passend an, sich zu verabschieden. Sie ist schon in einem Zustand, in den ich mit meiner Biologie nicht hinkomme, so von der Vorstellung her. Da ist eine Barriere, da ist jetzt schon ein Jenseits. Was sollst du ihr da wünschen, was sie nicht schon viel besser weiß? Was sollst du ihr da wünschen, was sie nicht schon lebt, was sie nicht noch lebt? Es ist eine Art Respekt vor ihrem Zustand, den ich empfinde, und der gebietet, dass ich mich gerade nicht verabschiede. Als ich gehe, sage ich “mach’s gut”, und ich meine das wie ein lockeres “bis zum nächsten Mal” und lasse die Dinge schweben. Wir beide brauchen keine Endgültigkeit in unserem Verhältnis.
Zwei Tage später ruft mich der D. an, recht spät am Abend. Ich muß nicht abheben um zu wissen, was geschehen ist. Wäre es etwas anderes, hätte er mir eine WhatsApp-Nachricht geschickt, so, wie am Tag davor, als ich ihn, ebenfalls per WhatsApp, auf die Cheyne-Stokes-Atmung hingewiesen hatte und er mir, ohne dass wir das Thema ihrer Atmung zuvor überhaupt besprochen hätten, sofort einen genauen Bericht über ihren Atemrhythmus an diesem Tag schickte, jeweils um 11, um 15 und um 18 Uhr. Auch jenen Tag hatte er fast ganz bei ihr verbracht, und er hätte den Eindruck gehabt, da wäre noch etwas gewesen, das sie davon abgehalten hätte loszulassen. Auch die Schwestern hätten dies bestätigt. Es sei in ihrem Zustand ungewöhnlich, dass da noch einen ganzen weiteren Tag geatmet wurde. Da müsse noch etwas sein. Auch an dem Tag, an dessen Abend sie dann starb, hätte er ursprünglich ins Krankenhaus fahren wollen, sagt der D., doch er wäre sehr erschöpft gewesen und seine Frau hätte gemeint, vielleicht wären es die Besuche, die sie sie davon abhalten würden, loszulassen. Ein Priester kam übrigens an diesem Tag auch noch vorbei. Hatte sie vielleicht darauf gewartet?
Am Telefon sprechen wir uns die Situation zurecht, so, wie man sich als Humanoider Situationen zurechtspricht: Wir schreiben Intentionen zu und legen Rationalitäten zugrunde, um das Mysteriöse ihres Zustandes zu erfassen, in dem rein biologisch keinerlei willensgesteuertes Handeln mehr erfolgen kann. Der D. spricht oft von ihrem starken Willen, auch jetzt noch. Ich widerspreche ihm nicht, denn es ist nicht wichtig das zu tun. Ich pflege still mein eigenes Zurechtdenken. Sie wollte ihre Ruhe haben, auch wenn sie sich sehr oft beklagte, dass man sie nicht genug besuchte. Sie war gerne alleine, und vielleicht wollte sie alleine sterben. Angehörige verarbeiten ihren Kummer über das Sterben ihrer Lieben oft dadurch, dass sie bei den Sterbenden sein zu müssen glauben, wenn diese ihre letzten Atemzüge tun. Sie nicht allein zu lassen, sie zu begleiten, ohne sie natürlich im Wortsinn zu begleiten. Womöglich würden Sterbende oft gar nicht begleitet werden wollen, könnten sie noch reden und Wünsche äußern, könnten sie noch Wünsche haben. Vielleicht wäre da ein lautes “so, jetzt schleicht’s eich oba” oder ein höflicheres “ihr habt’s doch sicher noch was zu tun, oder? Lasst’s euch doch von mir nicht abhalten”. Und dann, endlich allein, ein wenig noch Weiteratmen in der Stille der Gemeinschaftslosigkeit, gefolgt vom Aufatmen einer letzten Erleichterung. Godspeed.
comment [3]
Rote Rüben, Perlhuhnbrüste und Brian Eno
Der Lebensmittelzustelldienst empfahl, doch noch einige französische Perlhuhnbrüste vor dem nahenden Verfallsdatum zu retten. Warum nicht. Dieses Rezept für gebräunte Perlhuhnbrüste auf rotgrünem Gemüse empfahl der Suchalgorithmus, mit roten Rüben, Frühlingszwiebeln und Karotten, what’s not to like. Anstelle des empfohlenen Madeira (für die Garflüssigkeit im Ofen nach initialem Anbraten der Brüstchen) nahm ich Shaoxing Kochwein, das Trüffelöl wurde durch sehr aromatisches Majoran-Würzöl vom Safranoleum ersetzt (dessen Würzöle ich sehr, sehr gerne empfehle). Die fantastische Kochflüssigkeit der blanchierten roten Rüben, Karotten und Frühlingszwiebeln — es war nur noch ein kleiner Rest — fügte ich der Garflüssigkeit aus dem Ofen bei deren abschließendem Eindämpfen der Sauce hinzu. Dann auch noch die unfehlbare Allesverbesserungszutat, nämlich den 5-Länder-Pfeffer von Elfie Breidt-Seiser, der Mutter von Katharina Seiser. Dazu gab’s Gnocchetti Sardi.
Ich mag rote Rüben sehr. Doch der spontane Griff zu diesem und keinem anderen der dann doch in größerer Zahl verfügbaren Perlhuhnbrustrezepte hatte eventuell auch mit Brian Eno zu tun. Brian Eno mag die Farbe Magenta sehr. Er trug ein magentafarbenes Hemd in Gary Hustwits Dokumentarfilm “Brian Eno”, der letzte Woche zweimal im Wiener Filmmuseum zu sehen war. Der Film besteht aus historischen Aufnahmen von Bühnenperformances und Studioszenen rund um Musikprojekte, an denen Eno in der einen oder anderen Funktion beteiligt war, aus aktuellen Aufnahmen von Interviews, die Hustwit mit Eno geführt hat, aus den gegenwärtigen Eno begleitende Szenen, die Hustwit aufgenommen hat, aus zuvor uneröffentlichten Musikaufnahmen aus Enos Archiv. Er hat aber keine feste Gestaltung, das ist das besondere. Aus diesem Repertoire wird anlässlich jeder Aufführung mithilfe generativer KI (bespoke generative software designed to sequence scenes and create transitions) eine einzigartige Version gebastelt. Keine zwei Publikumsgruppen sehen denselben Film, somit wurde auch bei den beiden Wiener Aufführungen nicht zwei Mal derselbe Film gezeigt.
Wie groß das Repertoire an Material genau ist und wie die Auswahl gestaltet ist, das kann ich nicht einschätzen. Laienhaft stelle ich mir eine gewisse Rezeptur vor: nimm mindestens zwei Szenen, in denen sich Eno über die menschliche Natur (unendliche Vorstellungskraft) oder das Planetare äußert (wir müssen auf den Planeten achten, die Zukunft kann auch großartig werden), maximal fünf Szenen, die Natur (Kühe, Schwäne, Bläßhühner), Eno im Garten (mit dem Mobiltelefon ungewöhnliche Insekten filmend) oder am Spaziergang durch einen Park zeigen (auch rückwärts abgespielt), auf jeden Fall was mit Bowie, Bono, Frauen, (Laurie Anderson), Multiethnisches (Fela Kuti, Laraaji), mindestens eine Szene zu den Oblique Strategies, zwischen fünf und sieben mit Eno am Gerät, experimentierend, mischend, hörend, den heutigen Eno, den aus den 1970er Jahren, den aus den 1980ern (hair line more receded). Chronologiequoten sicher auch dabei (mindestens eine Szene aus einem sehr rezentem Projekt, jenem mit dem Baltic Sea Philharmonic zum Beispiel, mindestens eine vom ganz jungen Eno, der mit dem Glamrock). Beachte überdies Vor- und Hintergrund, stelle ein Thema hier in den Vordergrund und lasse es dort als Nebenstrang wieder auftreten. Mische die Zutaten nicht willkürlich, beachte gewissermaßen Garzeiten und wie der Kochvorgang einzelne Substanzen transformiert. Vordergrund und Hintergrund: Was zu Beginn im Vordergrund ist, tritt später in einem komplexeren Gericht an den Rand, spielt nur noch mit. Oder umgekehrt, je nach Zutat. Rote Rüben färben zum Beispiel alles, was ihnen nahekommt, ein. Frühlingszwiebel tun dies nicht.
Jedenfalls: Die Software war gewiß kein reiner Zufallsgenerator. Das Risiko, bei einer der Vorführungen 85 Minuten lang nur Kühe und Bläßhühner abgemischt zu bekommen, wird wohl niemand der Beteiligten eingehen wollen, so interessant ich das fände. Doch der biografische Fokus ist vorgegeben. Der Film ist generativ und in gewissem Rahmen unvorhersehbar, aber er ist kein Experiment, und das Filmmuseum ist nicht der Echoraum. Den Ansatz, ein biografisches Projekt zu einem Künstler dessen künstlerischem Ansatz entsprechen zu lassen, finde ich dabei etwas hochgestochen. Am Ende ist “Eno” doch recht konventionell durch die autobiografische Darstellungs- und Erzählweise des Meisters gestaltet und erstaunlich homogen, was darauf hinweist, dass das verwendete Filmmaterial in sich eine recht homogene Perspektive auf den Meister hat, zumindest jenes, das in dieser Wiener Aufführung zum Einsatz kam. Das ist nicht unsympathisch, wenn auch für meinen Geschmack etwas zu hagiographisch, jedoch interessant, weil der Mann eben einfach interessant ist (und sympathisch, sagte ich das bereits?). Man könnte die Analogien noch weiter auffächern, von wegen generierter Film und Kochrezept, denn Eno selbst spricht (in einer der Wiener Szenen) von seiner Art, Musik zu machen, eher mithilfe von Malerei als Metapher. Lässt sich generative KI-Gestaltung mit Malerei analogisieren?
Aus dieser einen Wiener Mischung hängengebliebene Splitter (ich ergänze dies möglicherweise noch): ein freundlicher, souveräner, sympathischer und trocken sarkastischer Herr, der nach seiner autobiografischen Erzählung eigentlich wie sein Großvater und Vater Briefträger im ländlichen England hätte werden sollen, ein umgänglicher Nerd, einer, der immer versucht und probiert, ein recht gelassener Getriebener, sozusage. Einer, der nicht nur ein Ding sein will, der zum Beispiel, wie er so autobiografisch erzählt, an der Rockmusik das Körperliche schätzte, an der Klassik die überlegte Intelligenz, der aber eben Beides wollte. Als roter (dare I say: magentafarbener?) Faden, was Musik betrifft, die Körperlichkeit, die Materialität von Klang, der Versuch, sie zur Geltung kommen zu lassen, zu entwickeln, mit sehr unterschiedlichen Mitteln.
Da war die eine Aufnahme, in der der recht junge Eno vor einem Turm an Gerätschaften steht, am Boden liegt nackt ein recht großer Lautsprecher aus weißem Latex. Eno will den Filmenden vorführen, welch tolle Klänge man da rausholen kann. Es kommt nichts, und dann offenbar nicht erwartetes, abgehacktes Summbrummen, durch längere Stillestrecken unterbrochen. Eno ist das nicht peinlich, er ärgert sich nicht, da ist eher so ein “oh!” — er findet sofort Gefallen an dem Klang, der eigentlich als Störklang entstand (und der vermutlich bedeutet, dass einer der Verstärker hinüber ist). Man merkt, er möchte sich unverzüglich nur noch mit diesem Summbrummen befassen, ihm nachgehen, und nur die Höflichkeit gegenüber dem Filmteam, das ja etwas anderes von ihm wollte, hält ihn davon ab.
Die Geschichte mit dem Kölner Flughafen, geplant von Paul Schneider-Esleben (dessen Sohn Kraftwerk mitbegründete), der Eno zu “Music for Airports” inspirierte (es gibt übrigens in der herrlichen Serie “The Rehearsal”, S02E04, eine Szene mit gecasteten Bands in einem Flughafen, die ich nicht umhin konnte, als Hommage an Music for Airports zu sehen). Die Geschichte von Laraaji, der immer im New Yorker Washington Square Park seine selbst elektrifizierte Zither spielte und einmal einen Zettel mit Telefonnummer in seinem Geldsammelmützchen fand, von Eno, erzählt er, der ihn aus Höflichkeitsgründen nicht unterbrechen wollte, aber auf diese Weise kundtat, dass er die Musik mochte und falls er, Laraaji, Interesse an einem gemeinsamen Projekt hätte, würde er sich über einen Anruf freuen. (Dies führte zum Album “Ambient 3 — Day of Radiance”.)
Im Studio mit dem jüngeren Bono, 1984, der sich in “In the Name of Love” so richtig reinsteigert (die Szene ist auch auf YouTube). Die anschließende Kritik ist delikat, behutsam, restrained. “I wouldn’t like to inhibit what you’re doing”.
comment [1]
Kulturnotizen, Rekonvaleszenz
“Summer of Soul” (Ahmir “Questlove” Thompson, 2021), Dokumentation über das Harlem Culture Festival im Sommer 1969, in der historischen Erinnerung von Woodstock überschattet, lange vergessenes Filmmaterial (Guardian review)
François Jullien, Ein zweites Leben (hängengeblieben: Überlegungen zur zweiten Liebe, zu Begegnung, zu Wiederbegegnung im Gegensatz zu Wiederholung, die Ankündigung einer Auseinandersetzung mit Klassikern chinesischen Denkens freilich enttäuschend unterbelichtet)
“East Side” (israelische TV-Serie, 2023, über einen “Fixer”, der Immobilien-Deals zwischen israelischen Siedlervertretern und arabischen Bewohnern Ost-Jerusalems einfädelt, klug angelegt, dicht schattiert, fein gespielt)
“Asura” (Netflix-Serie von Hirokazu Kore-eda, Januar 2025, eine Familienabtastung in Tokio Ende der 1970er Jahre, angelehnt an eine damals populäre japanische TV-Serie, Portrait vier erwachsener Schwestern, gemeinsames Essen als tragendes ästhetisches und erzählerisches Mittel, Guardian review, schwerer Rie-Miyazawa-Crush)
endlich Filme von Kurdwin Ayub gesehen, “Paradies, Paradies” (2016) und “Sonne” (2022), Familien- und Freundschaftsgeflechte über Migration und Exil hinweg, Drucksituationen und Feindseligkeiten, Himmelschreiendes, das Koexistieren und Zusammenfügen von Konstellationen, die in einer stark konturierten Vorstellungswelt überhaupt nicht gleichzeitig möglich oder vorstellbar sind und hier im Alltag eine skurrile Selbstverständlichkeit gewinnen
“The Diplomat” (Netflix-Serie, Deborah Cahn, 2023—24, zwei Staffeln; Keri Russell, auch so ein Crush, als US-Karrierediplomatin mit etwas älterem US-Karrierediplomatenehemann, sie wird Botschafterin in London, Navigation internationaler Krisen mit Nahost-Fokus, die Maschinerie der Diplomatie, komplexe Ehegeschichte, recht facettenreiche Aushandlung von Geschlechterdynamiken im politisch-privateen Ränkespiel)
Doch wieder mehr in Serien hineingeraten, nach längerem Desinteresse und Ennui.
Otessa Moshfegh, “Heimweh nach einer anderen Welt” (2020), Erzählungen des Abwegigen.
Alma Mahlers jüngere Schwester Margarete, Text im Standard von Olga Kronsteiner)
Abenteuer in Wien / Stolen Identity (Emile Edwin Reinert, 1952, restauriert 2025), Kriminalfilm im zerstörten Nachkriegswien, gebrochene Identitäten, dunkelgrau, schon einmal notiert
Vom Stock
Auf den ersten längeren Ausgang — er sollte immerhin sechs Stunden dauern — nahm ich einen der Nordic-Walking-Stöcke mit. Der Stock ist schwarz und aus Leichtmetall. Der Name der Herstellerfirma und des Modells sind an der Stange in grellem Weiß und Gelbgrün aufgedruckt. Auch der Griff ist gelbgrün, mit Korkeinlagen an jenen Stellen, an denen die Hände Halt brauchen. Es gibt eine Handschlaufe mit Klettverschluß, in die sich die Hand so einfädeln kann, dass der Stock auch ohne Zugriff fest mit dem Handgelenk verbunden bleibt und an ihm baumeln kann. Der Stock hat nicht zufällig die Anmutung eines Skistockes, der Sport hat sich ja in Zusammenhang mit Skisport entwickelt. Der Nordic-Walking-Stock hat auch eine Metallspitze, auf die nun ein schräg gebogener Gummipuffer gesteckt war, wie es beim Walken auf Asphalt generell empfohlen wird.
Ich nahm den Stock hauptsächlich aus psychologischen Gründen mit. Ohne Stock gibt es nichts an diesem Körper, das anderen vermitteln würde, dass da an einer für die Körperstabilität recht heiklen Stelle Fremdkörper einheilen und gerade diese Stelle bitte nicht durch plötzliche Bewegungen des Ausweichenmüssens irritiert werden sollte. Die Stelle ist durch Kleidung, Haut und Muskelschichten gut verborgen. Der Stock erweist sich in dieser Lage als magischer Gegenstand, der Menschen, die mir sonst zu nahe kämen, etwas weiter weghält und mir jene Art von bedachtsamer Bewegung ermöglicht, die zum Schutz der vor sich gehenden Einheilung gerade angebracht ist. Im Lauf dieses ersten Ausgangs, der ersten Abendveranstaltung nach dem Eingriff, erlebte ich, wie das spielerische Sich-Stützen auf den Stock, in dem ich mich dann doch immer wieder versuchte — der Stock war ja da, also warum nicht —, den Rücken tatsächlich massiv entlastete. Schau einer an. Es war dies immerhin meine erste Stock-Erfahrung nach dem Schienbeinbruch (beim Skifahren) im Alter von vermutlich sieben Jahren. Ich weiß es nicht mehr genau und möchte nicht nachforschen.
Es gibt die Formulierung “am Stock gehen”. Wenn ich sie höre, denke ich an gebeugte ältere Menschen mit einem Stock aus Holz, poliert, mit einem gebogenen Griff. Oder an ältere Menschen, die auf Bankerln vor Bauernhäusern sitzen, die Stöcke vor sich gestellt, die Arme darauf gestützt, manchmal auch das Kinn darauf abgelegt. Mein nächster Gedanke, schon konkreter, gilt einem älteren Verwandten, der gerne durch die Wälder seiner Wohngegend streift, mit einem spitzen Stock aus poliertem Holz. Er geht langsam, er spricht dabei und weist mit der Spitze andere immer wieder auf besondere Pflanzen oder Pilze im Waldboden hin, auf Veränderungen oder Phänomene. Wo früher Wasser geflossen ist. Wo sie einen Baum gefällt haben, sie, die anonymen, nicht genau bekannten Besitzer und Behandler des Waldes. Die Spitze des Stockes ist ihm, dem älteren Verwandten, zu einem Zeigegerät geworden, auch zu einem Sondierungsinstrument, einem Werkzeug der Entdeckung.
“Ob beim Theaterbesuch oder beim Stadtbummel: moderne Materialien wie Aluminium oder Carbon kombiniert mit modischen Farben machen den Gehstock für Senioren als Gehhilfe zu einem eleganten Hilfsmittel, das seinen Träger schmückt und für den sicheren Gang unterwegs sorgt.”
Das Zitat findet sich auf mehreren Websites von Sanitätshäusern; ein generischer Werbetext. Der Gehstock ist dank seiner Sichtbarkeit auch Objekt der Gestaltung, er kann und soll etwas hergeben. Der Stockshop, er greift (!) weiter aus und wartet mit einer großen Vielfalt an Stöcken unterschiedlicher Funktion und Getaltung auf. Da sind kunstvoll angefertigte Stöcke (polierte Hölzer) mit Knäufen. In Gedanken sehe ich wohlgenährte Herren mit Zylindern und wehenden Wollmänteln im nebligen London über nass glänzendes Kopfsteinpflaster eilen, die Stöcke fliegen lassend. Sie brauchen ihre Stöcke nicht, aber diese sind ihnen auch nicht einfach modisches Accessoire. In ihren Gesten, darin, wie sie mit den Stöcken hantieren, finden sich Spuren der Handhabung von Zeptern.
Im Stockshop gibt es auch bunt bedruckte Designstöcke; ich denke an eine spanische Bekleidungsfirma. Manche der Stöcke sind aus Kunststoff oder Leichtmetall (Aluminium, Carbon) und können zusammengeklappt werden. Es gibt auch Stöcke mit aufklappbaren Sitzflächen. Sitzstöcke. Der Sitzstock “Ascot” vermittelt mit seinem Namen, wofür er gedacht ist. Ich war noch nie bei einem Pferderennen. Aber es gibt dort gewiss eine beschränkte Anzahl von Sitzplätzen, die man sich leisten können muss, zu denen man Zugang erlangen muss. Der Sitzstock “Ascot” evoziert eine Umgebung aus Überfluss und Reichtum, wäre aber im tatsächlichen Einsatz beim Pferderennen doch eher für Personen, die eben gerade keinen Zugang zu festen Sitzplätzen erlangen können, die dort, nun ja, nicht so wirklich hingehören. Das Produkt verspricht den Nimbus von etwas, gehört zu diesem Nimbus aber nicht. Viele der angebotenen Sitzstöcke haben Sitzflächen aus Leder. Die Unterfläche der ledernen Sitzfläche des Stockes “Harris” ist aus echtem Harris-Tweed. Andere Sitzstöcke dienen dem Ausharren während der Jagd (Sitzfläche stabiles Rindsleder), für die übrigens auch Zielstöcke angeboten werden. Wieder andere dienen dem Ausruhen beim Wandern, dem Verweilen in der Natur, etwa bei der Vogelbeobachtung (grüner ABS-Kunststoff mit stabilem Aluminiumrahmen).
Bei meinem Ausgang unlängst nahm ich nur einen der beiden Nordic-Walking-Stöcke mit, da es regnete und ich die andere Hand für den Regenschirm brauchte. Zwei Stöcke würden den Körper beim Gehen gewiß besser und ausgeglichener abgestützt halten, doch das scheint mir mit den Anfordernissen eines Stadtausflugs auch ohne Regen schlechter vereinbar. Es muss doch immer wieder etwas gezogen, gedrückt, gehalten werden, da stört der zweite Stock einfach. Ich fädle die Hand auch nicht in die Schlaufe ein, denn die Hand in der Schlaufe ist, nun ja, gebunden. In der Straßenbahn sitzend würde sich der Stock an die Hand gefesselt anfühlen, und die Hand an den Stock. Das stört, ebenso wie ein zu häufiges Aus- und Wiedereinfädeln der Handschlaufe. Ich könnte die Schlaufe also sogar vom Stock entfernen, das erlaubt dieses Modell immerhin. Ich würde sie dann aber bestimmt an einem Ort lagern, der mir entfiele. Das muß nicht sein.
Bei meinem zweiten Ausgang, untertags, verschafft mir der Stock in einer überfüllten Straßenbahn einen Sitzplatz, weil eine junge Frau, die sich setzen wollte, bei seinem Anblick innehält und mir den Platz überlässt, danke. Mittlerweile verfüge ich über geschärfte Stock- und Stützsensorien und registriere aufmerksam Geh- und Stehhilfen aller Art. Da ist die ältere Dame an der Busstation mit nicht nur einem, sondern zwei Nordic-Walking-Stöcken. Verwendet sie sie wie ich, oder ist sie tatsächlich zu einem Nordic-Walking-Ausflug unterwegs? Wer weiß; ihre Kleidung lässt keine Rückschlüsse zu. Ich sehe nur wenige ältere Menschen mit Gehstöcken, das mag an der Tageszeit liegen, oder ist es einfach generell so? Ist man auf einen Gehstock stark angewiesen, geht man wohl weniger häufig außer Haus. Der Gehstock ist ein Werkzeug, dessen Verwendung sich umgekehrt proportional zu seiner Notwendigkeit verhält.
Die eine oder andere Krücke fällt mir auf, bei jungen Männern mit Orthesen am Bein. Krückenbenützer*innen fallen schneller auf, weil sie sich ruckartiger bewegen. Sie stechen aus Mengen hervor. Eine Frau schleift eine, und wirklich nur eine, Krücke einfach so mit, sie stützt sich gar nicht drauf, was macht sie nur mit dem Ding, und warum? Ein älterer Herr verwendet seinen Regenschirm wie einen Gehstock, eine geschickte Funktionsfusion, die die Stockindustrie gewiss vergrämt. Im Bus stützt sich eine ältere Dame auf ihren Einkaufswagen. Als ich dann mit meinem zum Stützstock entfremdeten Sportgerät von der U-Bahn-Station aus den leicht abschüssigen Weg nach Hause antrete, kreuzt ein Mann meinen Weg: hoher Haaransatz, das zerzauste, längere Haar mit Frisiercreme aus dem Gesicht geklatscht, ein wie von der Sonne vergilbtes Sportblouson, das Hemd etwas zu weit geöffnet, Goldkette, ein großer Hund an der Leine. “San se beim Wandern?” fragt er mich, und er kriegt ein lachendes “Jawoll!” als Antwort.
comment [1]
Die entführte Braut (1938)
Sich in Situationen verordneter Immobilität Filme mit ordentlichen Tanzszenen reinzuziehen hat gewiß rekonvaleszenzfördernde Wirkung.
Etwa solche mit Rosy Barsony (1909—1977) im musikalisch durchdrungenen Film “Die entführte Braut” (“Roxy und ihr Wunderteam”), der im Januar 1938 erstmals — und zwar in Wien — vorgeführt wurde. Ein narrativ etwas exzentrischer (tja, Operette), sehr charmanter Film im Milieu des ungarischen National-Fußballteams. Es geht um Sport vs. Liebe, geografisch und kulturell zwischen Österreich und Ungarn. Der Balaton spielt eine Hauptrolle. Die jungen Männer (in hinreißenden Badeanzügen zu sehen!) müssen trainieren, junge Frauen unterminieren das und führen mit ihrer Präsenz zu allerlei Verwicklungen.
Fantastisch finde ich die Nummer ab 1:15, gerade auch wegen der Kombination aus Basanys sprühender Freude und überbordendem Bewegungsdrang mit der eine geschwellte Brust paradierenden Behäbigkeit ihres etwas gesetzteren Partners (ihr häufiger Bühnenpartner und Ehemann Oscar Dénes), gerade auch, weil hier Einiges an Choreographie und Ausführung unperfekt und ungelenk wirkt. Das fördert die Rekonvaleszenz gleich noch mehr.
Aktuell einsehbar (noch bis 11.5.2025) hier auf der fantastischen Website des fantastischen österreichischen Filmarchivs. Der Film, so heißt es, sei die letzte Produktion einer von jüdischen Filmschaffenden getragenen österreichisch-ungarischen Filmproduktion der 1930er Jahre und beruht auf Paul Abrahams Operette “Roxy und ihr Wunderteam”, die 1937 in Wien und Budapest aufgeführt worden war. Hier ein gut recherchierter Artikel von Angela Eder, der unter anderem sport- und sozialgeschichtliche Hintergründe (soziale Anerkennung des Fußballsports im Wien der 1930er Jahre, die sich auch anhand dieses Films zeigt), Details aus der zeitgenössischen Rezeption und die biografischen Verläufe der vielen jüdischen Darsteller*innen behandelt.
comment [2]
Werkzeugspaß und Körperkalibrierung: vom Leben unmittelbar nach einer LWS-Operation
Der letzte Erfahrungsbeitrag mit Verhaltensanregungen für die Zeit nach einem chirurgischen Eingriff, Flüssig-breiige Ernährung im Anschluß an Kieferoperationen, ist den Zugriffszahlen nach zu schließen ein totaler Renner. Nicht, dass ich die geneigte Leserschaft mit Genesungsgedöns langweilen möchte, aber einige bescheidene Hinweise für die Erleichterung des Lebens im Anschluß an eine Operation der Lendenwirbelsäule könnten ja dann doch nützlich sein.
Nach einer LWS-OP soll eins die Wirbelsäule so gerade wie möglich halten und auf keinen Fall im LWS-Bereich beugen oder drehen. Becken und Schultern immer schön parallel halten. Die Schwierigkeiten, die eins damit haben kann, hängen von der individuellen Konstitution, Beweglichkeit und Körperbewußtheit ab, das also bitte mitbedenken. Aber umlernen wird eins auf jeden Fall müssen. Wie lange, hängt von der OP ab. Bei einer Transforaminal Lumbar Interbody Fusion (TLIF) — klingt geil, gell? —, die ich die Ehre hatte erleben zu dürfen, dauert’s länger mit der Vorsicht, bei einer einfachen Facettengelenkszysten-Entfernung, die ich letzes Jahr die Ehre hatte erleben zu dürfen, erfolgt der Übergang in sorglose Bewegung früher.
Meine erste Beobachtung dazu: in alltäglicher Umgebung ist die Einübung neuer Bewegungsmuster schwieriger. In der ohnehin fremden Umgebung eines Krankenhauses fällt es leichter, sich etwas anzutrainieren. Die Mobilisierung nach einer LWS-OP beginnt sehr früh, in der Regel bereits am Tag nach dem Eingriff. Ich würde diese Phase im Krankenhaus nützen, so viel wie möglich zu üben, damit sich Bewegungsmuster rasch einprägen.
Das sind im wesentlichen vier. Erstens, im Liegen das Drehen mit dem ganzen Körper, en bloc, auch dann, wenn eins nur etwas vom Nachtkästchen derglengen möchte. Zweitens, Aufsetzen aus dem Liegen immer über die Seitdrehung, Beine anwinkeln und runterfallen lassen und gleichzeitig mit den Armen seitwärts hochdrücken (das Gewicht der fallenden Beine als Anker nützen), dabei die Wirbelsäule so gerade wie möglich lassen. Drittens, Aufstehen und Hinsetzen mit geradem Rücken (Hände auf die Oberschenkel legen dabei hilft) und mit Hauptarbeit in den Oberschenkeln. Für diese drei Bewegungen geben Physiotherapeut*innen Anleitungen im Krankenhaus, es gibt auch zahlreiche PDFs und Videos auf Klink-Websites. Viertens, Drehbewegungen beim Herumgehen und -stehen immer mit dem ganzen Körper durchführen (wenn eine isolierte Kopfdrehung nicht ausreicht, die ist auch ok), und am besten mit angespanntem Unterbauch. Ich habe mir angewöhnt, diese Drehungen von den Füßen aus zu denken und anzugehen, dann setzt sich das von unten her logisch auch über Hüfte und Schultern durch. Die Drehung beginnt damit, dass die Füße initiativ werden. Der Reflex ist ja eher, den Kopf zu drehen und den Rest des Körpers so weit mitzuziehen wie nötig — dann ist eins aber schnell in der LWS-Drehung drin, das ist bäh.
Sich reflexhaftes Drehen überhaupt abzugewöhnen, ist schwer. Wenn zum Beispiel eine Person von hinten ruft (“kannst du mal kurz?”), oder wenn es unerwartete akustische Signale von hinten gibt (Amseln tuckern). Ich drehe mich da sofort neugierig um und mußte nunmehr feststellen, dass ich das viel zu gerne aus der LWS mache. Mir hilft bei der Vermeidung (zusätzlich zum Fußprinzip) die Strategie, so wenig wie möglich in solche Situationen zu kommen — also so gut es geht Umgebungen zu meiden, in denen Drehprovokationen wahrscheinlich sind. Eins soll ja viel gehen nach so einer OP, aber dann eben in möglichst reizarmen Umgebungen. Ich suche mir Wege, wo ich so wenige Straßenkreuzungen wie möglich passiere, und gehe zu Zeiten, da wenig Verkehr ist. (Mit kleinen Kindern stelle ich mir die Drehvermeidung übrigens sehr, sehr schwierig vor.) Und ich bewege mich vorwiegend so, dass die Amseln tendenziell vor mir tuckern. Nie der potenziell tuckernden Amsel den Rücken zukehren!
Wenn man sich im Sitzen drehen muß, so meinte die Physiotherapeutin, dann die Schulter so weit wie möglich isoliert drehen. Dieser Hinweis ist besonders bei Reinigungsvorgängen im Anschluß an einen sitzenden Toilettengang zu bedenken. Lachen Sie nicht, das sind häufige Bewegungen, bei denen man viel kaputt machen kann. Und wenn wir schon bei Körperpflege sind: Fürs Gesichtwaschen empfiehlt sich ein Waschlappen (ansonsten Beugegefahr!). Personen, die ansonsten die Verwendung eines Zahnputzbechers zugunsten behenden Beugens zum Wasserhahn verschmähen, wird temporäres Umdenken empfohlen. Der Zahnputzbecher ist der Freund des geraden Rückens.
Apropos beugen und drehen. Mit Ausfallschritt kommt eins bei einigermaßen beweglichen Hüften relativ weit runter gen Boden, ohne den Rücken zu beugen, aber de facto gibt es — von der Physiotherapeutin bestätigt — keine Möglichkeit, etwas vom Boden aufzuheben, ohne dabei den unteren Rücken zu verdrehen. Let that sink in, and don’t even try. Du kannst nichts selbst aufheben.
Gut, manches läßt sich vermeiden. Das kokette Hinabgleitenlassen von Gewändern zum Beispiel, machst du halt dann ein paar Wochen nicht. Dennoch: Mir war nicht bewußt, wie oft mir täglich was runterfällt, und wie viele Gegenstände meines Alltags, nun ja, einfach am Boden leben. Gelegentlich hebe ich Gegenstände mit den Zehen, warum nicht, Variation macht Spaß. Wenn Stabilität und Hüftbeweglichkeit mitspielen, läßt sich ein Gegenstand mit der Zehe bis zu den Fingern der gegenüberliegenden Hand transportieren, ohne dass sich die LWS biegt. Echt! Gegenstände können auch stufenweise gehoben werden: erst mit den Zehen auf eine Stufe oder einen niedrigen Tisch transferieren, von dort geht’s dann oft bereits mit rückenfreundlichen Beugetechniken aus der Hüfte und in den Knien.
Meist kommt aber doch die Greifzange zum Einsatz. Greifzange! Wort und Gegenstand wurden mir von der Physiotherapeutin im Krankenhaus ins Bewußtsein gerückt — I had no idea! Es gibt eine sehr beeindruckende Produktpalette an Greifzangen, für Menschen geeignet, die freiwillig, verordnet oder aus Notwendigkeit Müll aufsammeln, oder für Senior*innen. Auf einschlägigen Verkaufsplattformen werden Greifzangen stark nachgefragt und detailreich rezensiert. Das Produktdesign ist wohl nicht ganz zufällig oft dem einer Schußwaffe angeglichen, der Wasserpistolenspaßfaktor ist nicht zu leugnen. Manche Modelle wie das von mir erworbene haben Magneten vorne an den Armen, aber ich habe sie noch nie nötig gehabt; vielleicht eher ein Gimmickfaktor. Allzu schwere Gegenstände kann man mit Greifzangen nicht heben, aber so bis ein Kilogramm geht’s. Und es macht Spaß. Wie es ja oft bei guten Werkzeugen der Fall ist, entdeckt man ihren weiteren Nutzen auch erst im Gebrauch. Bislang zog ich immer den Stuhl heran, um in höher gelegene Küchenregale greifen zu können, jetzt erledigt die Greifzange 80% dieser Fälle viel komfortabler. Offenbarungen!
Socken und Schuhe anziehen, auch so eine Sache. Sockenhandling geht nur im Sitzen, sorry (ich bin sonst eingefleischte und stolze Sockenstehhandlerin, je nun). Was die Schuhe angeht: am besten schaut eins schon vorher drauf, Slipper zur Verfügung zu haben, dann müssen wenigstens keine Schuhbänder oder andere Verschlussformen manipuliert werden. Sehr empfehlen kann ich einen Teleskopschuhlöffel, mit dem auch im Stehen das Hineingleiten in Slipper mühelos gelingt. Es gibt auch einfach lange Schuhlöffel, ich fand die Teleskopkonstruktion aber attraktiver, weil sie à la longue flexiblere Einsatzmöglichkeiten hat. Schlapfen lösen das Problem natürlich auch, sind aber vermutlich nicht für alle aushäusigen Situationen geeignet.
Schon vor längerer Zeit erworben: ein schräg leicht verstellbaren Tisch für die Arbeit mit dem Laptop im Liegen, oder auch für die Ablage von irgendwas. Mit geeigneten Liegeflächen und Polstern ist sowas übrigens auch ein Segen für die Halswirbelsäule. Fürs Liegen am Rücken empfiehlt sich generell ein härteres, längliches Kissen für unter die Knie, da schnurrt das Wirbelsäulchen.
Eine größere und planvollere Investition ist ein elektrisch verstellbarer Lattenrost fürs Bett. Keine Altersscheu! Angesichts dessen, wie viel Zeit eins im Bett zubringt, so auf die Lebenszeit gerechnet, ist’s erstens nicht soo teuer (gute Matratze sowieso wichtig), und praktisch alles, was sich in Rückenlage erledigen läßt, läßt sich mit verstellbarem Lattenrost besser und bequemer erledigen. Beim Handling eines solchen Lattenrosts (gilt auch fürs Krankenhaus) postoperativ aufpassen, dass ie LWS nicht in eine zu stark gebeugte Position gerät, indem etwa Kopf- und Fußteil zugleich weit hochgefahren werden. Aber der Körper gibt da schon recht verläßlich Rückmeldung (aua). Wichtig ist auch daran zu denken, die Matratze wieder absolut flach zu stellen, wenn eins sich im Liegen auf die Seite dreht, denn eine seitliche Biegung der Wirbelsäule gilt es zu verhindern.
Prosecco und Disko für frisch Operierte
Die Transporteure im Krankenhaus, die Patient*innen vor Operationen in ihrem Bett zum und vom Operationssaal schieben, oder in Rollstühlen zu und von Untersuchungen. Kompakte, mitunter grobschlächtig wirkende und häufig tätowierte Männer, jovial im Umgang, geschult in der Kunst des alters- und geschlechtergerechten Kompliments, das je nach Disposition der komplimentierten Person bierernst schmeichlerisch oder mit einem Augenzwinkern vorgebracht wird, das eine Solidargemeinschaft des Die-Situation-persönlich-aber-nicht-ernst-Nehmens herstellt. Blutjung, jo, eh, sicher. Sie sind nervös, sagt der Transporteur zum OP im Aufzug dann überraschend leise und lapidar. Ja, ich bin nervös, sage ich. Das war alles. Atmen.
Beim Einschleusen in einem recht kleinen Raum dieses nicht allzu großen Krankenhauses eine Szene von berührender Würde. Der Transporteur erklärt, das OP-Hemd müsse nun ausgezogen werden (das ja hinten offen ist), er würde es oberhalb der Brust abstreifen, dabei achtet er auf die korrekte, Entblößung vermeidende Lage der Decke. Von rechts rollt ein anderer Transporteur die Bahre, oder wie immer das Ding heißt, auf dem sie dich in den OP rollen, heran. Die beiden Herren tauschen die Bettdecke gegen vorgewärmtes grünes OP-Tuch, wiederum sehr diskret entblößungsvermeidend. Der Körper wird ersucht, sich selbsttätig von Bett auf Bahre zu bewegen.
Im Vorraum zum OP-Saal muss noch ein Zugang gelegt werden, das macht die Anästhesistin. Es klappt an der ersten gewählten Stelle nicht gut; es schmerzt die Nadel. Im Saal selbst gelingt es dann an einer zweiten Stelle, doch die schmerzende Nadel wird nicht mehr entfernt. Das irritiert, denn dass es in dieser Atmosphäre, in der so vielen Werten, Regungen und Befindlichkeiten dieses Körpers so viel konzentrierte Aufmerksamkeit gewidmet wird, gerade darauf — so kurze Zeit vor dem Wegdämmern — nicht mehr ankommt, das ist, mit Verlaub, ein kleiner Sprung im Professionsporzellan. Während noch etwas Sauerstoff durch eine Maske administriert wird, äußert die Chirurgin, nach einem kurzen Gruß vollständig im konzentrierten Profimodus aufgegangen, den Wunsch nach bestimmten Rundpolstern auf dem OP-Tisch, auf den der Körper dann in Bauchlage gewuchtet werden wird, wenn das Bewusstsein stillgelegt ist. Ein Assistent hat bereits andere Rundpolster dort abgelegt und kommt ihr doch glatt mit einem “aber die haben wir bis jetzt immer genommen”. Ihre kurze Entgegnung “die anderen halten besser” wischt seine Bemerkungen, die inferioren Polster und allfällige Nervositäten weg.
Die offenen Augen erblicken zuerst eine Uhr an der Wand. Etwa vier Stunden sind vergangen, und das Bewusstsein ist sich dessen bewusst. Da ist die Chirurgin, mit ihrer sehr sanften und absolut überzeugenden Stimme, “alles gut gegangen”. Da bringt eine Schwester ein Funktelefon und fragt “sind Sie bereit für Ihren Gatten?”. Es wird viel gegattet und gegattint in diesem Aufwachraum. Es gibt Schläuche, die Flüssigkeiten zuführen, Schläuche, die Flüssigkeiten abführen, Verkabelungen zu Messgeräten. Ein leichtes Brennen im unteren Rücken. Schwindel, der geduldig und unbekümmert macht, der das Bewusstsein im herumliegenden Jetzt hält, sodass ihm dessen Ausdehnung in die Zukunft gleichgültig ist. Die Zukunft, sie wird noch fast 24 Stunden dauern, denn das Krankenhaussystem vermag sich hier im Aufwachraum besser und präziser mit dem Körper und seinen potenziellen Schmerzzuständen zu beschäftigen als im Krankenzimmer. Schwester A., in der zweiten Schicht, administriert weiteren Schwindel (leichtes Opioid), ich solle einfach denken, in einem Sitz zwei Gläser Prosecco runterg’stellt zu haben. Der Körper lacht. Ich hab ja eh nix zu tun, sag’ ich, da kommt’s auf den Schwindel wirklich nicht an.
Achtsamkeitsmeditationen beginnen häufig mit dem Hinweis darauf, es gäbe jetzt nichts zu tun, nichts zu leisten, keine Aufgabe. Die einzige Aufgabe im herumliegenden Schwindel ist Atmen. Die Sauerstoffsättigung im Blut wird über einen dünnen Schlauch hoch gehalten, der mit einem putzigen Schaumstoffplug im Nasenloch fixiert ist. Als man ihn probehalber entfernt, weil der Plug doch etwas unangenehm reibt, wird die Last auf den Lungen deutlich. Später, als man mir das Mobiltelefon vom Krankenzimmer geholt hat (toller Service) und sich das Bewusstsein mit sozialen Netzwerken vernetzt, kommt sofort ein Warnton, Sättigung unter 80. Der Körper kann noch nicht atmen, wenn sich das Bewusstsein vernetzt. Er bekommt von der ersten Schwesternschicht Wasser administriert, auf Zuruf, die zweite stellt dann schon die Wasserflasche zur Selbstbedienung ab. Der Körper macht Fortschritte.
Der Aufwachraum ist recht groß, L-förmig, und doch ziemlich geschäftig. Es werden andere hereingeschoben. Bei einigen ist die Rede davon, dass sie dann in einer halben oder ganzen Stunde nach Hause gehen könnten, aha. Anderen wird angekündigt, dass sie dann oder dann auf die Station kommen würden, soso. Alle wollen Wasser und kriegen zuerst nur Zitronenstaberln angeboten. Ärzte treten an Betten heran und informieren in konzentriertem Ton über Verlauf und Fortgang. Es lassen sich Wortfetzen ausmachen, Satzfetzen, Krankheitsbilder zusammensetzen, synthetische Operationen des Bewusstseins setzen ein. Das geht nun auch zusätzlich zum Atmen, ohne dass die Sättigung sinkt.
Das Bewusstsein sucht sich Ablenkung. Es versucht, die Schlitze in diesen Deckenplatten zu zählen, die ich später als “Dralldurchlass” zu bezeichnen lerne (danke, Internet). Es gelangt jedes Mal zu einer anderen Zahl und registriert konsequenzloses Scheitern. Es plaudert mit Schwester A., wenn sie etwas mehr Zeit hat. Bonding über biografische Parallelen: die Berufswahl von Frauen gegen Familienwünsche. Es bemerkt grüne, langsam wandernde Lichtpunkte an der Decke. Wirklich? Ja, sagt, Schwester A., sie hätten da so einen Sternenhimmel installiert. Das Bewusstsein reagiert mit einem Witz über Diskokugeln für frisch Operierte, zustandsadäquat geschwindigkeitsreduziert.
Es registriert widersprüchliche Impulse, Empathie einerseits, leichte Genervtheit andererseits, als der ältere Herr gegenüber unmittelbar nacheinander drei Pflegenden von seinem Oberschenkelschmerz berichtet und sie ihm alle sagen, er bräuchte bei den Schmerzmitteln bitte noch etwas Geduld, und, ja, ein Oberschenkelschmerz wäre bei seiner Art der Rückenoperation völlig im Rahmen. Der Herr wirkt ungehalten, will gehört, angehört, zugehört werden, da spricht sich ein Bedürfnis nach Aufmerksamkeit in einen Zustand hinein, in dem es nie und nimmer gestillt werden kann. Aber am Ende, als man ihn zurück ins Krankenzimmer rollt, bedankt er sich überschwänglich bei Schwester A. Er würde dem Krankenhaus einen Brief schreiben und extra die gute Behandlung im Aufwachraum hervorheben, ihre ganz besonders, wie hieße sie noch.
Gegen Mitternacht wird eine Frau hereingerollt, die soeben entbunden hat, das Bewusstsein erschließt einen Kaiserschnitt, der nicht geplant gewesen war. Es registriert überrascht, wie wach und kognitiv präzise die Frau beisammen ist. Der Vater kommt hinzu, noch eine Frau, sie setzen sich hinzu, und das Bewusstsein wundert sich etwas, dass all dies hier in diesem großen Raum stattfindet, aber es war ein Notfall. Es ist von Plazenta die Rede, von etwas, was sich noch ablösen müsse, dies aber, wie der hinzugekommene Arzt erklärt, von selbst tun würde. Als Arzt und Schwestern abtreten, nimmt das Gespräch juristischere Wendungen, es ist wohl etwas geschehen, was so nicht hätte geschehen sollen, es wurde eine Entscheidung getroffen, die die Mutter so nicht hätte treffen wollen, nichts Fatales, gewiss, denn Mutter und Neugeborenes sind wohlauf, aber vielleicht doch ein Behandlungsfehler in the making? Bevor das Bewusstsein sich zu sehr in Themen vergräbt, die es nichts angehen, erscheint Schwester A. mit einer Schlaftablette, gerade rechtzeitig, denn da ist das Bewusstsein müde und will sich stilllegen, aber der Körper, die Umgebungsreize, irgendwas, lässt es einfach nicht. Die Tablette führt in eine Dämmerung, immerhin. Dichte, plastische Bilder und Szenen, die sich nicht zu Träumen aufbauen wollen.
Sonatas and Interludes
Das Hotel lag in der Frankfurter Bahnhofsgegend, wo das Museum nicht lag. Das Museum lag in der rekonstruierten Neuen Altstadt, ein weithin gerühmter 150m-Langbau aus den 1980er Jahren, der sich jetzt ein Performance-Festival im ausnahmsweise hellen Galeriesaal gönnt, bevor zu Renovierungs- und Umbauzwecken für zwei, drei Jahre geschlossen wird. Die Eintrittsschlange samstags gegen 13 Uhr reichte ein Stockwerk hinab and then some. Das war schon, äh, interaktiver Teil der Performances, konkret bedingt durch Annika Ströms “Seven Women Standing in the Way”, zu dem es die folgende Anleitung gab:
“They should be above 65 years old.
They should not be dressed too formally. They should be wearing their coats or jackets and appear to be members of the audience.
They should be dressed casually and not be wearing high heels, as they will have to stand most of the time.
Whilst they are standing in the way, they should never appear aggressive, but simply ocivious to the fact that they are standing in the way. They should be completely oblivious to people around them.
They should be preoccupied with each other only, and the conversation they are having with each other.
If people want to pass, they should not give way at first, not until they appear to become aware that someone wants to pass, then they can make way, but they must never be aggressive about it.
They should stand together all the time, chatting and drinking. They can be loud, but they shouldn’t be too noisy, nor should they seek attention.
The performance should be very subtle. They should be standing all the time, but rest if they need to. However, when they do rest, they should all rest together.
If anyone asks them anything they should ignore the question, but if someone insists, they should reveal that they are a part of the show and that they are
The Seven Women Standing in the Way.”
Am schmalen Eingang in die Galerieräumlichkeiten standen also tatsächlich einige weißhaarige Damen, und sie verhielten sich tatsächlich den Richtlinien entsprechend, auf recht ruhige, lächelnde Weise. Die Besucher*innen schlängelten sich recht entspannt und langsam zwischen ihnen durch (wer von ihnen ahnte, wußte?). Erst nachdem ich den Text innen an der Galeriewand entdeckt hatte, formte sich dieses kurze, beiläufige Erlebnis zu einer Kunsterfahrung.
Ähnlich im Ansatz auch Alija Wysockas Performance “Hide and Seek” etwas später. Hier spielte eine Gruppe fröhlicher, bunt gekleideter Frauen aus der Ukraine, mittleren und höheren Alters, im Ausstellungsareal inmitten der anwachsenden Besucher*innenschar Verstecken. Sie liefen hin und her, versteckten sich hinter Menschen, Mauerwerk und Türen, und wenn die Suchende das Leo — ein an die Wand gekritzeltes Kreuz — verlassen hatte, rannten die Versteckten darauf zu und tappten dort jauchzend ab. Auch das ein Spiel mit Frauenkörpern, die etwas Gesellschaftliches, etwas Politisches, etwas Geopolitisches, wofür sie standen, in ein Raumszenario übersetzt darstellten, dadurch die anderen Anwesenden fordernd, in deren Rolle als Betrachter und Kontext zugleich.
Rundherum bewegten sich Personen in weißen Schutzanzügen, die als Teil von Norma Jeanes “Antibodies” in der Galerie überall Staub aufkehrten und aufsammelten. Dies taten sie nicht nur aktuell, denn da lag bereits ein offenbar über Monate hinweg gesammelter, recht beeindruckender Wollmäusehaufen von skulpturaler Anmutung (die Schirn hat im übrigen sehr schöne Holzbesen und -bartwische, auf denen groß “SCHIRN” steht). Man konnte sich fast als Virus fühlen, auf das die kehrenden Antikörper angesetzt wurden (der Staub ist ja schließlich auch Besucherstaub), als kleines bewegliches Störelement in einem multisystemischen Organismus.
In Ana Prvačkis “Tent, Quartet, Bows and Elbows” (Link mit Video), das bereits 2007 aufgeführt worden war, spielte ein Streichquartett prononciert Atonales in einem geschlossenen weißen Zelt inmitten des Galerieraums. Die Zuschauer*innen hatten sich vor Beginn auf bereitgestellten Papphockern um das Zelt gruppiert, dahinter standen gedrängt die, die keine Hocker mehr ergattert hatten. Eine Museumsmitarbeiterin brach die Konstellation geschickt auf, indem sie erstens darauf hinwies, dass dies eine zu ergehende, zu umgehende architektonische Performance sei, und dies zweitens gleich selbst zu performieren begann. Bald umrundeten mehrere das Zelt. Und immer, wenn eine länger stehenblieb, um einen Ellenbogen oder einen Instrumententeil, der gerade besonders rhythmisch herausragte, zu filmen, lief die Museumsmitarbeiterin stracks durch Bild und verdarb klug das Aufnehmen, das lähmend wirkte. Viele schätzten vor allem die an einer Ecke durch den Stoff sichtbare rechte Schulter einer Streicherin, über die konturierend schwarzes langes Haar fiel. Das ruckartige Spiel der Ellbogen an den Bögen sorgte für schön anzusehende Ausbuchtungen, das Zelt zuckte und wogte. Es muß da drin recht heiß geworden sein. Begeisterter, lachender Applaus am Ende.
Weit weniger verschmitzt Isaac Chong Wais Falling Reversely. Fünf offenbar professionell ausgebildete Tänzer*innen in Straßenkleidung vollführten Bewegungen, in deren Zentrum die Umkehr des Fallens stand, “as a powerful response to institutional violence and assaults against individurals of Asian descent”. Bemerkenswerte Körperstudien über das Fallen und Geworfenwerden, das Aufstehen, Aufspringen und Hochgezogenwerden (von nicht sichbaren Kräften), aber auch das Einander-Halten, -Heben und -Tragen, den Gewinn von Solidarität in einer Situation der Bedrohung.
Der kleine ca. Zweijährige im Skelett-Shirt, der am einen Ende der Performancefläche (viele Zuschauende saßen am Boden) mit einem Schlüsselbund und seinem leeren Trinkbrecher am Boden trommelte, bot der Szene Kontrast, die trotz der vielen Bewegung eine starre Gestimmtheit transportierte, vor allem durch ernsthafte Mienen und starre Blicke (mir kam der Verdacht, dass sehr gute Tänzer*innen nicht eo ipso geeignete Schauspieler*innen wären). Kontrast bot auch das Paar, das mir gegenüber saß: sie, mit braunen langen Haaren und offenem Gesicht am Papphocker mit gespreizten Beinen, er, hoher Haaransatz und fuchsfarbene Bartstoppel, am Boden dazwischen, sie berührten einander immer und immer wieder etwas mehr. Sie flüsterte ihm Dinge ins Ohr, die ihn glücklich lächeln ließen.
Ein Höhepunkt die Performance von Lenio Kaklea, “Sonatas und Interludes”, abends, eine Aufführung von und Auseinandersetzung mit John Cages so benannten Kompositionen. Das Klavier stand bereits den ganzen Tag präpariert in der Gegend herum. Orlando Bass spielte; er zeigte sich als nicht gefälliger, dicklicher Körper, in wohl bewußt zu eng gewählter Kleidung, schwarzer Hose, weißes T-Shirt, weiße Socken, keine Schuhe. Rückenhaar, das sich leicht pelzig über dem Halsausschnitt zeigte, schütteres Haupthaar, Nerdbrille. (Viel ungeglätteter als die Bilder auf seiner Website also.) Lenio Kaklea erschien in einem schwarzen Lederanzug mit Beplattung an Rücken, Ellbogen und Knien, was ihr eine leicht insektenartige Anmutung verlieh. Eine kraftvolle, strenge und grazile Erscheinung.
Die “Sonatas and Interludes” wurden zwischen 1946 und 1948 komponiert, als Ausdruck der rasa der indischen Ästhetik (mit der Cage wohl über die indische Musikerin Gita Sarabhai und das Werk von Ananda Coomaraswamy bekannt wurde; Wikipedia sagt Einiges dazu). Kaklea, so erzählt sie, wäre mit einer Choreografie zu Cages Komposition beauftragt worden, was sie anfänglich abgelehnt hätte, es wäre wirklich nicht ihre Art von Musik gewesen, sagt sie mit “alter weißer Mann”-Vibes in der Stimme.
Dann hätte sie recherchiert und wäre auf Verbindungen der “Sonatas und Interludes” und Cages generell zum Tanz gestoßen. (Zu den Verbindungen zu indischer Ästhetik sagt sie nichts.) Cage hätte immer wieder mit Choreografinnen gearbeitet, zumeist “racial ones” (Syvilla Fort, Pearl Primus, Valerie Bettis, Hanya Holm ). Sein erstes Stück für präpariertes Klavier, Bacchanale, entstand 1938—1940, als ihn die afroamerikanische Choreographin Syvilla Fort (1917—1975) um afrikanisch “inflektierte” Begleitmusik zu einer ihrer Choreographien bat (beide waren an der Cornish School beschäftigt). Die Methode der Präparierung des Klaviers durch Anbringung verschiedener Objekte zwischen den Saiten war den beengten räumlichen Verhältnissen im avisierten Aufführungsraum geschuldet, da Cage ein Stück für ein Perkussionsensemble schreiben wollte, wofür aber schlicht zu wenig Platz war (Quelle). Kaklea, so führt sie aus, wolle die weniger beachtete Dimension von Cage, seine Zusammenarbeit mit afroamerikanischen Choreografinnen, beleuchten, bearbeiten. “John Cage’s music will be in my service today” sagt sie, bestimmt, mit einem Unterton von abschätzigem Zorn. Den Beginn der Choreografie sieht man übrigens hier, aus 2023.
Die Choreografie zu den von Bass sehr souverän, aber auch eigenwillig gespielten “Sonatas and Interludes” (die Fünfer, die ich besonders gerne mag, erkannte ich kaum wieder) verhält sich dann zur Komposition auch immer wieder leicht bis offensiv mokierend, trotzig und rotzig. Dabei ist es, denke ich, schwierig, sich diese Art von Musik als Tänzerin zur Begleitung zu machen, weil sie sich mit ihrer besonderen Tonalität so in den Vordergrund drängt, dass Bewegungen, zumal so phrasierte, abgehackte wie jene Kakleas, umgekehrt leicht zur Begleitung der Komposition werden und ihr gegenüber untergeordnet wirken — wogegen Kaklea ja gerade rebelliert. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, glaube ich fast, sie hat auch mit dieser Unmöglichkeit gespielt, wollte sie zeigen, ein Ringen der Bewegung mit der Musik vorführen. Dazu passt auch der Insektenkörper.
Trotzig und rotzig: Sie kriecht auf eine Videokamera zu, die an einer Ecke der Aufführungsfläche am Boden positioniert ist, schaltet sie ein, ihr Gesicht erscheint groß auf die Wand projiziert. Sie schneidet Grimassen, ein freches fuck you der Musik gegenüber aus jeder ihrer riesig sichtbaren Schweißperlen.
Ihr Körper spielt sich dort dann ganz in den Vordergrund, wo er sich auf Motive der Präsenz weiblicher Körper in Kultur, Tanz und Film generell bezieht: das Ballett, in Figuren noch im ledrigen Insektenkampfanzer stets eckig geratend, der Striptease, der Stück für Stück verteilt über das ganze Stück stattfindet. Sie ist dabei sehr spielerisch, läßt unter den schwarzen Lederteilen den knallroten Leotard aufblitzen, zieht die gern verrutschende Lederhose trotzig über ihr rot glänzendes Gesäß wieder hoch, bevor sie sie irgendwann ganz abstößt.
Auch mit Orlando Bass wird gespielt. Kaklea zieht an Schnüren die Videokamera vom Rand in die Mitte, hin zum Klavier, bis ein Bild seiner weißen Socken (auf den Klavierpedalen) riesengroß an der Wand erscheint und den Rest der Performance begleitet. Die zunehmende Nacktheit der Frau zu den riesigen weißen Socken des weißen Pianisten, das ist stimmig. Noch im Leotard mit schwarzen Schienbeinschützern legt sie sich auf den Rücken unter die Klavierbank, ihren Blick ruhig und unverwandt dorthin gerichtet, wo man das Gemächt des Pianisten vermuten darf, durch die Sitzfläche ihrem Blick verborgen. Das Spiel läuft eine Zeit vom Band weiter, beide stehen auf, es folgen gemeinsame Bewegungen, bei denen sie seine Kreise stört, der weiche Körper des Pianisten und der muskulöse Körper der Tänzerin, sie stellen etwas dar und sind gleichzeitig, das spürt man, miteinander als Künstler*innen vertraut.
Dann, später, zieht sie auch den Leotard noch aus. Erst zeigt sie uns mit einer Geste des Stolzes und der Anklage zugleich ihre nackten Brüste (eine Aufforderung hinzusehen bei gleichzeitiger Gnackwatsche für unseren Voyeurismus). Dann ist sie nur noch mit einer glänzenden hautfarbenen Strumpfhose bekleidet, unter der sich in ihrem Schritt der dunkle Schatten von Schamhaaren zeigt, den sie diskret durch gekreuzte Beine verbirgt, sich im Zustand der fast vollkommenen Nacktheit gegenüber dem Publikum auf eine berührende Verletzlichkeit zurückziehend. Ich mochte, wie sie es zustande brachte, in ein- und derselben Geste, Position oder Bewegung mehrere Impulse auszudrücken, das schien mir zu den Sonatas and Interludes denn auch sehr passend. Es kam dann noch zu einem Negroni Sbagliato und, irgendwo in der Frankfurter Innenstadt, dem besten Ayran meines bisherigen Lebens.
comment [1]
Weird and radical projects
(Mainz, Frankfurt, 26.-30.3. Soundempfehlung: Warp Bleep Era Tribute Mix)
comment [1]
Die kurzen Momente, in denen du schwebst
Im “Heimatsaal” im Volkskundemuseum, der nicht erst seit der neuen, einschlägig politisch verorteten steirischen Landesregierung so heißt (Graz hat eine kommunistische Bürgermeisterin), erzählt Suzanne Ciani im Gespräch mit Shilla Strelka von ihrer Musik und ihrer Laufbahn. Man kann das Gespräch auch nachhören. Es ist ein sehr angenehmes Gespräch; Ciani spricht ruhig, gewählt, überlegt.
Sie spricht viel von ihrem Instrument, dem Buchla, von dessen Veränderung seit den 1970er Jahren, von Don Buchla, den sie als Erfinder und Konstrukteur dieses modular electronic music instrument preist (er hätte das Wort “synthesizer” gehasst), auch wenn er sie persönlich als junge Frau erst einmal sofort rauswerfen wollte, als sie bei ihm zu arbeiten begann. Ein evil genius, sagt sie. Sie erzählt von Kalifornien in den 1970er Jahren als Umgebung für Musik, als politisierte Umgebung. Sie spricht von ihrem Zugang zu Musik, der im wesentlichen ein emotionaler wäre, von einer Reaktion auf eine damals empfundene Überkomplexität akademischen Komponierens. Reaktion, Konfrontation: auch ihre, als Frau, die komponieren will, auf Kompositionslehrer, die Frauen die Fähigkeit zur Komposition absprechen, weil sie nichts Langes komponieren könnten. Sie spricht demgegenüber von ihrer Faszination am microcosm of sound, davon, dass für sie eine Komposition einer Drittelsekunde (Telefonton) durchaus Anfang, Mitte und Ende haben könne.
Sie spricht von elektronischen Instrumenten, davon, wie sie erfordern, dass du Klänge analysierst, auseinandernimmst, zu etwas zusammensetzt. Für sie: eine Poesie. Auch: eine Sicherheit, die dir die Maschine, der Synthesizer gab, Langsamkeit zu können, das hätten Menschen eben einfach nicht gekonnt. Die Schwierigkeit, Geld für ihr erstes Album aufzutreiben (there were no albums from female composers), so kam sie dazu, Klänge für Werbespots zu produzieren. Der berühmte Coca-Cola-Ton bewusst unmelodisch, da sie einen Klang wollte, den die Firma nicht nur in einem besonderen Spot einsetzen konnte — von einem universell einsetzbaren Klang erhoffte sie sich schlicht höhrere Einkünfte, die Finanzierung ihres Albums, das dann letztlich in Japan erschien.
Der Umgang mit der Maschine, die regelgeleitet ist, in Form von Kenntnis erfordernden Anweisungen; das Interessante beginnt dort, wo Zufälligkeit entsteht. randomness. Die Unvorhersehbarkeit der Maschine, an der sie auch nach so vielen Jahrzehnten noch Neues entdecken, kennenlernen würde. Sie spricht von buchlaistic techniques, ähnlich, wie es pianistic oder violinistic techniques gäbe. Die Steuerung des Buchla über “voltages”. Sie hatte füher den 200er gespielt, ihre Rückkehr brachte sie zum 200 E, mit dem sie plötzlich Dinge nicht mehr tun konnte, die früher möglich waren. Mehrfach betont sie, technologische Entwicklung würde nicht alles zum Besseren wenden; es würden auch Möglichkeiten verlorgen gehen. Ausführungen über Klang, Musik und Raum, das Verhältnis zwischen dem Design eines elektronischen Instruments und seiner kreativen Verwendung. Das Design von Eurorack-Synthesizern (keine Lichter ursprünglich, also kein Feedback-Mechanismus; alles viel zu klein für Menschen mit größeren Händen). Sie steht auf die Animoog-App. Die Wichtigkeit der Performanz. Instrumente müssten unter dem Aspekt der performability gestaltet werden, denkt sie.
Der Grazer Schloßberg ist durchlöchert. “Schloßbergstollen” nennt man das. Ein erster kurzer Stollen wurde 1937 errichtet, motiviert durch den Wunsch nach Luftschutzbunkern. Das heute existierende Raum- und Tunnelsystem mit insgesamt 6.300 Metern Stollen und ursprünglich 20 Eingängen geht auf eine nationalsozialistische Großinitiative 1943 zurück (Wehrmacht, Häftlinge, Kriegsgefangene). Sprengungen, Grabungen, das Aushubmaterial in die Mur geschüttet. Fast zwei Wochen nach meinem Ausflug nach Graz treffe ich E., fast 90, der in Graz aufgewachsen ist und den Schloßberg fest aus Angstsituationen in Erinnerung hat, immer die Bomben im Ohr, wenn er später dazu kam, sich dem touristisch entwickelten Berg zu nähern.
Seit Kriegsende ein unüberblickbarer Diskussionsprozeß über die Nutzung des Berges, utopische Tiefgaragenprojekte der 1960er und 1970er Jahre, Architekturvisionen, Museumspläne, 1999 dann in wenigen Tagen Sprengungen von 6.000 Kubikmeter Gestein zur Errichtung der Veranstaltungshalle “Dom im Berg”. Auch aus den frühen 2000er Jahren stammt der Lift, der vom Schloßbergstollen zum Uhrturm führt. Es gibt ein (geschlossenes) Montan- und Werksbahnmuseum, es gibt eine Märchenbahn. Es gibt eine Rutsche, die als Metallschlauch gewunden durch den Schacht bergab führt, der auch den Aufzug beherbergt.
Ein Tunnel mit felsig belassenen Wänden führt von der etwas höher gelegenen Innenstadt durch den Berg zum Murufer (Murufer ist ein großartiges Wort). Man geht auf leicht abschüssigen Metallgittern, bei schummrig rosa Licht mit Geisterbahnfaktor. Abzweigungen führen zu vom Weg aus einsehbaren Nischenräumen (ursprünglich gewiß Luftschutzbunker) mit verglasten Eingängen, dort gerade Lichtartefakte sichtbar im Rahmen einer Festival-Ausstellung. Über den Märchenbahnstollen gelant man zum Schloßberglift (genau gesagt zwei Lifte nebeneinander). Suzanne Cianis Soundinstallation in der gläsernen Liftkabine ist ein kleines, pulsierendes Musikfragment, das die Fahrt durch den Berg begleitet, vorbei an den Rutschenschlingen. Sie hat dafür ein älteres Stück auf dem frühen Buchla gewählt, in dem das Instrument singt, das Instrument als Verwandter des Lifts, sie sind Teil derselben Familie; ein Stück für die kurzen Momente, in denen du schwebst.
Die Kombüse im Stadtpark: ein Rundpavillon, darin eine Bar mit kleiner Tanzfläche, in das eine Eck der Bar ein recht gemütlich wirkendes DJ-Eck, wo an diesem Tag zwei junge Männer tätig sind. Guter, gemütlich treibender Sound. Schummrigkeit, die meisten Gäste stehen vor der Tür und rauchen. Pommes frites werden zubereitet und serviert. Ein gemütlich treibender Wohlfühlort. Nachts durch den Stadtpark spaziert, erst da die Erinnerung: Es muß ziemlich genau vor vierzig Jahren gewesen sein, in familienentfernten Osterferien in Graz, Herumlungern im Stadtpark, so, wie zu jener Zeit in Wien im Burggarten herumgelungert wurde, mit Tagen ohne Ziel und Gesprächen ohne Zweck. Eine Form des Driftens, wenn auch nicht die, die ich am reizvollsten fand.
Später, vor Cianis Konzert gegen zehn, gehe ich den Weg durch den Tunnel noch einmal, komme hinter drei jungen Männern zu stehen, von denen einer die beiden anderen fotografiert, die etwas weiter entfernt im Tunnel Spaß haben. Er dirigiert sie, auf Englisch, fordert sie auf, sich zu küssen, das könnten sie ja so schön. Da bemerkt mich einer der beiden hinter dem Fotografen stehen und bedeutet ihm, mich vorbeizulassen. Ich winke ab, “no, don’t mind me, I find this very entertaining”. Daraufhin wollen sie ein Foto mit mir, der eine kniet sich theatralisch vor mich hin und überreicht mir eine Plastikblume, ich meinerseits halte theatralisch meine Hand ans Herz, Foto. Wir haben Spaß. Die Plastikblume darf ich behalten, sie wird später in der Hektik der Garderobenhandhabung diskret aus meiner Jackentasche verschwinden.
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