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- 12 02 2022 - 12:30 - katatonik

Über das Puzzlespiel, flachen Frust und braune Haufen

2021 habe ich es wieder nicht geschafft, auf die freundliche Anfrage von Herrn Knoerer hin einen Jahresrückblicktext für Cargo zu verfassen, was daran liegt, dass ich mir schwer tat, auf 2021 zurückzublicken. Irgendwann zwischendrin habe ich dieses Jahr nämlich als Jahr aufgegeben; ich tat, was ich zu tun hatte — und im übrigen auch gar nicht so selten, was ich tun wollte —, verweigerte aber den Blick auf die Zeit und die Epoche. Es war einfach zu viel, und es gelang mir nicht, darüber in einer Weise nachzudenken, die hinter sich ließ, was andere schon hinausposaunt hatten. Nun also zurück zur Abteilung “Texte, die von mir kein Mensch erwartet”, die ich mittlerweile besonders gerne bespiele. (2021 war voll mit erwarteten Texten, das auch.)

Während eines Reha-Aufenthaltes im Frühjahr 2021 kam ich in der Schiene Ergotherapie zum Puzzlespiel. Man hopst ja in der Reha gemütlich von Therapie zu Therapie; ein paar Mal gab’s dabei Ergotherapie, also Basteln und Spielen. Manchmal schloss ich mich der Boules-Truppe draußen an (es war das frühe Frühjahr 2021 und klimakatastrophenentsprechend frühsommerlich warm), meistens blieb ich aber bei den Puzzlespielen hängen. Es lagen immer verschiedene in verschiedenen Stadien auf den Tischen herum. Wenn man wieder zum “eigenen” Puzzle zurückkam, hatte jemand anders weitergemacht, oder schon fertiggemacht, und es lag ein anderes da. Es war angenehm, Teil einer so unaufdringlichen und doch wirksamen Tradition zu sein, in der das Verschwinden ebenso zum Verlauf gehörte wie das Vervollständigen. Einmal wollten eine andere Dame und ich am gleichen Puzzle weitermachen. Sie war offenbar Profi, klagte aber darüber, dass sie ihrer Passion aus Platzgründen — zu kleine Wohnung — nicht in dem Maße nachgehen konnte, wie sie wollte. Wir beide waren uns still einig im Zugeständnis unseres jeweiligen zwangsneurotischen Verhältnisses zum Aufspüren passender Teilchen, und wir teilten uns das Spiel, gelegentlich plaudernd, aber vorwiegend konzentriert.

Es begab sich in weiterer Folge nach dem Reha-Aufenthalt, dass ich mir nun gelegentlich das eine oder andere Puzzlespiel gönne. Sich mit Puzzles zu beschäftigen ist auch so ein “rat’s hole”, man kann dazu beliebig viel recherchieren und lernt rasch, nach welchen Standards profilierte Spieler*innen Puzzles bewerten. Sind die Teile auch gut zugeschnitten, also nicht zu regelmäßig, aber auch nicht zu exzentrisch (das wäre ja zu einfach)? Sind die Bilder angemessen kleinteilig? Blaue Himmel sind visuell langweilig, fordern aber die Beschäftigung mit dem Formfaktor der einzelnen Teile. Man kann auch dieses Thema endlos vertiefen (don’t get me started on “Motivauswahl”). Mir genügt freilich die gelegentliche Kultivierung einer eher bescheiden dimensionierten Zwangsneurose, am Eßtisch mit Techno in den Kopfhörern (wg. Rhythmus). Ich habe ja schließlich noch andere Zwangsneurosen, denen Zeit gewidmet werden muss.

Über Twitter kam ich zu “The World of Shakespeare”. 1000 Teile, gestaltet vom Kunstzeichner und Illustrator Adam Simpson. Das Bild ist eine Zeichnung der Stadt London zu Shakespeares Zeiten und voll von Anspielungen auf Shakespeares Leben und Werk, sowie seine Zeit. Romeo klettert zu Julia empor, Hamlet unterhält sich mit dem Totenschädel, die Hexen aus dem Mittsommernachtstraum lassen was anbrodeln, Walter Raleigh schaut aus dem Tower und Francis Drake segelt die Themse runter, im Globe Theatre schweben Titania und Oberon herum. Es herrscht städtisches Leben, man duelliert sich, besäuft sich, disputiert saufend vor der Taverne herum, und auf Spießen am Eingang zur London Bridge stecken ein paar Köpfe (anscheinend aber historisch inauthentisch, ich muss schon sagen, denn die dort tatsächlich regulär aufgespießten Köpfe von Verrätern wurden üblicherweise zur Haltbarmachung mit Teer übergossen, im Puzzle sind die Gesichter aber sichtbar). Es ist jedenfalls alles schön wimmelig, und leider schlecht zu fotografieren, aber Adam Simpson hat schöne Details auf seiner Website.


 

 

Einige der gewiss noch viel zahlreicheren Anspielungen sind in dem Erklärtext auf der Rückseite einer beigelegten Poster-Vorlage wiedergegeben. Mein Lieblingszitat daraus betrifft einen Bären in Ketten:

“Near the Globe is the bear-baiting arena. People are filing out after the entertainment has finished, but a bear is still in the arena, chasing away his keeper (in allusion to The Winter’s Tale stage direction: ‘Exit, pursued by a bear’).”

Kenner Shakespeares und Historiker Englands — zwei Gruppen, denen ich nicht angehöre — würden hier sicherlich noch vieles identifizieren.

Als Puzzle ist das Ding jetzt nicht besonders schwierig oder langwierig, aber man fühlt sich kombinatorisch angenehm gefordert. Immerhin ist es ein Bild, das extra für ein Puzzle gestaltet wurde und daher auch Fährten legen und Fallen stellen kann, was etwa bei großen Meisterwerken der Kunst ja nicht so einfach möglich ist (mein letztes war Bruegels Turm von Babel). Es gibt an mehreren Stellen wiederkehrende visuelle Details — Sterne, gewisse Blumenformen, einander täuschend ähnliche Häuserfronten und Dachschrägen, sowie, nun ja, braune Haufen, dazu später mehr —, die zu einigen “false friends” führen. Da muss man schon aufpassen. Manche dünklere Stellen sind frustrierend ambig, vor allem bei schlechten Lichtverhältnissen, aber sie sind nicht großflächig. Der Frust bleibt flach, und das würde man dieser Tage doch gern für eine ganze Reihe von Frustrationserfahrungen sagen können.

Man kann auch gut dabei über historischen Alltag herumsinnieren, zum Beispiel über braune Haufen, ihre Häufigkeit und ihre Bedeutung im alltäglichen Geschehen. Manche davon liegen auf gepflasterten Plätzen unweit von Pferden und sind wohl deren Hinterlassenschaften. Manche sind eher dunkelgrau, nun gut, eine gewisse Farbvarianz in Pferdekot mag vorkommen, schließlich war das Ernährungsangebot für Pferde vermutlich recht wechselhaft. Andere sind im grünen Gras angesiedelt — Maulwürfe? Die Totengräber aus Hamlet schütten wohl Erdhaufen auf, sofern da nicht zufällig ein Pferd … am rätselhaftesten bleibt aber der Haufen vor dem Fenster des Dichters John Donne, der gerade in seinem Bett erwacht. Gibt es Hinweise auf unziemliche hygienische Verhältnisse im oder um den Haushalt Donnes? Hatte Donne ein besonderes Verhältnis zu Maulwürfen? Hinweise habe ich hiezu keine finden können, es gibt aber eine sehr schöne Zusammenstellung über die Metapher vom Geist als Maulwurf im 18. Jahrhundert, die ich hier nicht vorenthalten möchte.

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