Hall und Nachhall
Stéphane Clor (website | bandcamp), begann als Bassist / Kontrabassist, arbeitete sich zum Piccolo Violoncello vor. Album Wesserling (2021), Aufnahmen in einem 52 Meter hohen verlassenen Wasserturm einer Industrieanlage nahe Mulhouse, innen völlig leer mit Ausnahme einer Metalltreppe. Spiel mit Hall und Nachhall.
Im Konzert in der Kirche St. Ruprecht, die älteste noch aktive Kirche Wiens, natürlich zigmal in Teilen zerstört und wiederauf- und umgebaut, nicht groß, mitten in der Stadt an einem schönen Platz, kühl (um nicht zu sagen: eiskalt), romanische Reste, dezent gehaltene Gotik, dunkle, flache Holzbalkendecke, Buntglasfenster aus den frühen 1990er Jahren, etwas bizarr der Reliquienschrein des Hl. Vitalis mit einem barock bekleideten Skelett, das aus den Katakomben Roms stammen soll (Quelle). [G. sagt, ich würde mich wohl zu wenig in bayrischen Wallfahrtskirchen aufhalten, das mit den ausgestatteten Skeletten als Reliquien sei doch total normal. Ich stimme dem zu, lösche aber das “zu” in “zu wenig”.] Jedenfalls gibt es auch Musikreihen in der Ruprechtskirche, wie eben die Reihe Neue Musik in St. Ruprecht.
Dort spielt Clor vor harten Holzbänken mit leider sehr wenig Publikum, solo, im Anschluss an ein Solo-Posaunenkonzert von Werner Puntigam (das wiederum von einer Improvisation der taiwanesischen Erhu-Spielerin Chiao-Hua Chang begleitet wurde). Clor ist ein sympathisch wirkender junger Mann, und das stellen Sie sich bitte jetzt so hofratswitwenmäßig genäselt vor (“a so a netter junger Mann, geh, bittsche”). Hätte ich Kinder, in geeignetem Alter, nun ja, Schwiegersohnpotenzial. Er spielt sein Cello mit rudimentärer elektronischer Erweiterung. Da war auch eine Apparatur an der Schnecke angebracht, die weit oben am Hals rasch rhytmisch Saiten streichen ließ und damit hochtonigen Rhythmus generierte; er konnte sie mit einem Regler verstellen und in der Geschwindigkeit anpassen (auf “Wesserling” hört man auch etwas davon, denke ich, Stück 6). Es gab dann auch noch Stäbchen, die durch Saiten gesteckt wurden, und dann wurden die Seiten mit so weichen Paukenschlägeln bearbeitet; Vinicius Cajado, der Kontrabassist von unlängst, hatte das auch drauf. Es muss ein Ding sein unter experimentellen Saitenbearbeiter*innen. Clor führt auch subtilere Manipulationen mit Objekten an Einzelsaiten durch, sehr reizvoll.
Passenderweise spielte Cajado dann ein paar Tage später auch wieder in Wien, im Echoraum gemeinsam mit Jordina Milla (Klavier) und Mauricio Takara (Schlagzeug). Davor aber noch ein Set von Eduardo Cossi (verstärkte Zither, Harmonica, Elektronik) und Josten Myburgh (Altsaxophon, Elektronik), ansässig in Australien (Album: Land’s Air). Starker Publikumsandrang, auch eine Gruppe von sehr jungen Leuten dabei, die vorwiegend den Haarstil des zerrupften Pferdeschwanzes pflegen und sich recht nahe an den Musiker*innen am Boden niederlassen.
Tonalitäten, die sich recht langsam entwickeln, die Zither und Elektronik fein um melodische Ansätze des Saxophons gebaut, das sich dann auch in höhere Klangräume schraubt, während die Elektronik knirscht. Die jungen Leute wispern, raunen und knutschen, das passt halt leider gar nicht. Ich widerstehe der Versuchung, ihnen von schräg hinten einen meiner Schuhe in die Unterhaltung zu werfen, das wäre auch kontraproduktiv, ich kann meinen Schuh nicht dem Risiko einer Geiselnahme aussetzen. Der junge Mann in der Truppe ist total in die Frau neben ihm verknallt, die auch in ihn, das ist süß, aber er könnte sich vielleicht ein bisserl z’sammreißen und ihr seine Hand nicht grad während des Konzerts in Regionen unterhalb des Hosensaums schieben, das nur so als Anregung der Oma von schräg hinten. Ich stampfe jedenfalls einmal laut auf mit meinem ungeworfenen Schuh (Reminiszenz an Chruschtschow).
In der Zusammensetzung mit Milla und Takara sagt mir Cajados Spiel noch mehr zu als einige Wochen zuvor mit Siewert (Gitarre, Elektronik) und Paraskevopoulos (Klavier). Ich folge ihm übrigens auf Instagram; er spielt sehr viele Konzerte, unlängst auch in Berlin, und freut sich immer sehr darauf und darüber; herzerwärmend. Ich weiß nicht genau, wie jung er ist, aber jedenfalls sehr jung. Da geht es nicht mehr um Schwiegersohnpotenzial, eher schon Enkerlgefühle.
Jedenfalls habe ich den Eindruck, das Cello kann sich an diesem Abend besser entfalten, gerade weil die Pianistin und der Schlagzeuger auch ganz ordentlich reinhauen. Es ist wahrscheinlich zu simpel, Altersunterschiede ins Treffen zu führen. Aber ich dachte mir in der Besetzung mit Siewert und Paraskevopoulos, die beiden Herren würden sich (durchaus angenehm und umsichtig) gegenüber dem jüngeren Bassisten zurückhalten, ihm mehr Spielraum gewähren. Bei Milla und Takara ergibt sich halt keine solche Dynamik; der Bass steht dadurch insgesamt weniger im Vordergrund, macht auf mich aber einen freieren, spielerischeren Eindruck.
Man kann die beiden Abende ohnehin schwer direkt vergleichen, denn auch die Musikstile, auf die die jeweiligen Zusammensetzungen verarbeitend zugreifen, sind ganz anders; mit Milla und Takara ergeben sich komplexe Rhythmen, mehr Lateinamerikanisches im Hintergrund. Weniger Abstraktion des Instruments. Eine unglaubliche Gewandtheit im Umgang mit dem Instrument jedenfalls, ebenso wie mit ganz unterschiedlichen Musikregistern und Klangformen. Die Sache mit den Staberln zwischen den Saiten kommt auch noch, diesmal wird rasant und fingerfertig an den Staberln gedreht; Show. Natürlich musste ich dann übrigens doch noch bei der Knutscherbande intervenieren, ich bin aber eh höflich geblieben.
Apropos Saiten: Passenderweise erschien gerade (digital) Slow Beethoven: Der Cellist Jeffrey Zeigler mit drei anderen Saitenvirtuosi; sie spielen im “TANK Center for Sonic Arts, a nonprofit recording studio and concert venue centered around an extremely resonant empty water tank in the high desert of northwestern Colorado”. Und zwar spielen sie die Adagio-Fuge aus Beethovens 14. Streichquartett, zeitlich von sieben auf 45 Minuten gedehnt, ortsgerecht. Hall und Nachhall.