Das dezidierte Experiment
Der Weg in einen Konzertabend mit U-Bahn am Freitag Abend ist exotisch; als Fahrradfahrerin entgehen einer doch sehr viele Milieustudien in der Stadt. Was um diese Zeit, so knapp nach 20 Uhr, an Aufgetakeltheit unterwegs ist, meine Herrn. Parfum- und Rasierwasserschwaden durchwehen den U-Bahn-Wagen, Mädels bürsten einander sorgfältig das Haar, beobachtet von Jungs mit Zara-Sackerln, die ihrerseits vor nicht allzu langer Zeit sehr viel Aufmerksamkeit auf die Lage jeder einzelnen Haarsträhne in ihren farblich dezent bearbeiteten Kurzhaarfrisuren verwendet haben. Mäderlgruppen, Buberlgruppen, wechselseitiges Abchecken. Von der Optik her wär alles sehr softpornös, wenn nicht ein bayrisches Touristenpaar (Frage an mich in der U-Bahn-Station: “Wos isn des fia a Gaudi do hintn?”) und ein paar örtliche Balkangrantler mildernde Umstände beisteuern würden. Die Aufzugfahrt in der U-Bahn-Station Stubentor ist sehr lange, also wirklich lange, sodass sich der Gedanke “eigentlich möcht ich das grad nicht sehen, aber reizvoll ist es doch” gleich mehrmals denken lässt, während ich versuche, den durch ein innovativ geschlitztes Oberbekleidungsstück ostentativ zur Schau gestellten rechten Brustansatz einer jungen Frau – was heisst Brustansatz, das ist gut die halbe Brust, oder, hm, doch eher ein Drittel? – nicht allzu offensichtlich anzustarren.
Beatrice Dillon & Kuljit Bhamra im Rahmen der Wiener Festwochen im Porgy & Bess. Bei der Ankunft eine Menge lauter junger Leute in mittelmäßiger Auftakelung mit nordamerikanischem Englisch neben dem Eingang zum Porgy. Kurz gedacht, das kann jetzt aber nicht das Publikum für dieses Konzert sein, die sind sicher wegen irgendeiner Party mit Gimmicks im Modegeschäft nebenan. Ich besorge mir ein Getränk unten an der Bar – “entschuldigen Sie, ich dachte, Sie hatten schon bestellt” – “liegt an meinem G’sicht, ich schau immer so aus, als hätt ich schon bestellt, ja, es gibt solche Leut’” –, da strömen die Youngsters dann aber alle tatsächlich in den Konzertraum. Lieber auf die Galerie, alsdann.
Kuljit Bhamra humpelt auf die Bühne. Nichts Temporäres; Nachwirkungen einer Polio-Erkrankung als Einjähriger, in Kenia, wo sein Vater (wohl aus dem Punjab) beruflich tätig war, als was, weiß ich nicht genau. Die Mutter, Mohinder Kaur Bhamra, Sängerin, vom Vater an der Tabla begleitet; Musikerfamilie. Die Familie zog ins UK um, Southall als kulturell prägende Umgebung, kommunales Musizieren, Tabla, Bhangra. Bhamra hoch dekoriert, ausgezeichnet mit einem MBE (Gurinder Chadha hat übrigens auch einen OBE, war mir doch glatt entgangen).
Der junge Mann von den Festwochen kündigt an, das Konzert würde 40 Minuten dauern, und dann gäbe es einen DJ. Vielleicht sind die Youngsters deshalb da. 40 Minuten, enttäuschend kurz und für 25 EUR Konzertkarte schon eine Frechheit, war auch nirgends so angekündigt, meine ich. Aber es passt dann, denn die Bandbreite der Elektronikerin und des Tablaspielers ist klangmäßig eh recht eng. Mit Ausnahme einiger weniger Oha-Momente entwickelt sich auch keine rechte Dynamik zwischen den beiden. Da fängt was an, immer wieder, und versandet, bevor es sich entwickeln kann. Ich mag das Stück Workaround One, komme aber zum Schluss, das ist dann doch eher Begleitmusik für zu Hause, keine Konzentrations- oder Konzertmusik. Hinter mir erzählt eine junge Dame einer anderen am Ende, jetzt gäbe es ja noch DJ und man könne tanzen, sie sei letzte Woche auch da gewesen, das sei ihr aber zu extrem gewesen (das war nach Schneidewind & Hvizdalek, die ich leider knapp verpasst hatte, und DJ Yuzu ist wirklich nicht extrem). Womöglich ist das Festwochen-Youngsterpublikum so, bei der Viennale würd’ einer das wahrscheinlich nicht passieren, will ich hoffen. Immerhin sehe ich aber beim Rausgehen auch einen bekannten Wiener Kulturwissenschafter mit erinnertem Rampensau-Talent, und sonst auch einige ältere Semester, auch Gesichter, die ich der South Asian Community Wiens zuordne; insgesamt eine sehr kuriose Mischung.
Dass das Konzert nur 40 Minuten dauerte, hat den Vorteil, dass noch ausreichend Zeit für den Besuch des ersten von zwei jetzt dann also wirklich dezidiert experimentellen Abenden von Klang 30 war. 10 Acts insgesamt als 30-Jahr-Feier des von Walter Robotka betriebenen Klanggalerie-Labels mit bewundernswert ausdauerndem Einsatz für das musikalisch-klangliche Experiment. (Hier die Bandcamp-Seite.) Vom schwülen Bar-Rotlicht des Porgy & Bess in die heimelige, leicht abgeschrabbelte Kellerfinsternis des Replugged mit dem diskreten Charme einer verspiegelten 1980er-Disco. Eindeutig stärker tätowiertes Publikum als im Porgy, oder, sagen wir, mehr Menschen mit gealterten Tätowierungen, die diese auch gern auslüften. Kleidungsmäßig herrscht das von Waschmaschinen über Jahre unsanft behandelte Schwarz. Altersmäßig durchmischt, aber nicht besonders jung. Michael Fischer macht ganz großartige Dinge mit seinem Feedback-Saxophon (hier auf Youtube ein Beispiel), Klackern und Perlen, Kreischen und Hauchen, und wenn er dann bläst und zur gleichen Zeit verhaltenen Raungesang betreibt, ist es zudem eine Freude, den Vibrationen seiner Wangen zuzuschauen. Danach, für mich eh schon recht spät, Richard Schneider (Schloss Tegal), sehr darker ambient Industrial-Sound mit 9/11- und Abu-Ghraib-Videos. Das sieht und hört sich nach etwas an, das lange her ist. Ein Leih-E-Scooter bringt mich nach Hause, nicht, ohne vorher in der App noch mein Reaktionsvermögen getestet zu haben, sowas machen die also auch.
Am nächsten Tag wieder hin, diesmal fürs ganze Programm. Total antiklimaktische U-Bahn-Fahrt, wenig Leute unterwegs, das Exotischste ein schlecht rasierter Kapperlträger mit einer Flasche Limoncello in der Hand. Wirklich fantastisch dann die Soloauftritte von Philip Sanderson, Kevin Tomkins und Sainkho Namtchylak. Menschen, bei denen man das Gefühl hat, die haben ihre Kunst einfach drauf, wissen, was sie tun, unprätentiös, souverän, mit viel Oha. Namtchylak war mir schon länger bekannt, ich höre sie aber zum ersten Mal ganz solo; das begeistert nicht nur mich. Sanderson und Tomkins nachzugehen führt in Explorationen von Nischen innerhalb der jetzt schon älteren Analog-Elektronikmusik, die mir als solche neu sind. Zu Sanderson gibt’s die Bandcamp-Seite mit Re-Issues seines 1979 aufgekommenen Kassettenlabels “Snatch Tapes” und mit neuem Material seit 2000 vorwiegend von Sanderson und Ice Yacht. LOST WITH ALL HANDS : The Legend of Goodwin Sands gefällt mir ausnehmend gut. Von Tomkins gibt’s ein rezentes Soloalbum mit unpräparierter Autoharp auf Klanggalerie, in das man online kurz reinhören kann (Link); ihn live zu sehen lohnt sich, viel Feingliedrigkeit im Klang mit ordentlich Energie.
Ein signifikanter Anteil der Auftretenden sind ehrwürdige angloamerikanische Herren mit Verwechslungsrisiko. Stattlich gebaut, kurz rasiertes, weiß glitzerndes Resthaupthaar, gern auch schwarz gerahmte Brillen, Kapperl am Kopf. It’s a thing, apparently. Das Duo “Hastings of Malawi” (eigentlich ein Trio) gehört da auch dazu, trägt aber beim Auftritt Schweinemasken am Kopf. Klangcollagen, teils schrille Elektronik, Klarinette, stoisch ins Mikrofon gelesene Listen. Filmcollagen mit viel 08/15-Ostasienmotiven drin (Massenperformances, Militärparaden). Auch das alles etwas, das sich lange her anfühlt. Abschließend der reizende “I’m a homosexual left-handed artist from Northern England” Fil OK mit einem sehr superen blauen Anzug mit weißen Wölkchen drauf. Elektronikdisco vom feinsten (Soundcloud), Sound, bei dem einige der Anwesenden sogar leicht ins Wippen geraten, yours truly included (Dancing? Knöchel says no!). Er hat auch eine mit einem sehr schönen Video bebilderte Nummer namens “Bird”, Hommage an einen verstorbenen Dichterfreund.
Apropos unprätentiös: sehr charmant, dass es bei der ganzen, in recht gemütlichem Gestus gehaltenen Geburtstagsfeier um die auftretenden Musiker*innen ging, um einen Rahmen für sie, nicht um den Befeierten. Gelegentlich ein gehauchter Dank an Robotka, bei dem man den Eindruck hat, er hat sich da ein Programm zusammengestellt, von dem er ehrlich begeistert sein kann. Man hätte den Mann ruhig ostentativer, offensiver feiern können, er hätte es gewiss verdient, aber das wär dann vielleicht out of character gewesen (ich kenn ihn nicht persönlich). Wenn man sich den Label-Katalog der Klanggalerie anschaut, hätte so eine Feier übrigens auch gut zu einem Familienereignis der Wiener Experimentalmusik werden können, und es ist fein, dass es das nicht geworden ist, weil die meisten davon sieht man eh auch sonst öfter, und Wien neigt ohnehin zum Überfamiliärsein (obwohl dann vielleicht das Publikum zahlreicher gewesen wäre, bissi mehr Leute hätten’s schon sein können).